Was ist Sportpsychologie? Welche Themenfelder umfasst die angewandte Sportpsychologie und wie entwickelt ein Sportpsychologe seine spezifischen Kompetenzen, um in der Sportpraxis Sportlerinnen und Sportler zu begleiten? Genau davon berichte ich üblicherweise in der ersten Semesterstunde in der Vorlesung «Sportpsychologie» im Rahmen des Lehrdiploms Sport an der ETH Zürich. Gestützt auf relevante Basisliteratur (siehe Quellenverzeichnis!) und exemplifiziert am eigenen Werdegang versuche ich, den Studierenden einen möglichst anschaulichen und interessanten ersten Einblick in unser Arbeitsfeld zu vermitteln. In einer abschliessenden Diskussion wird mir meist die Frage gestellt: „Gehört es zum Anforderungsprofil des Sportpsychologen, selbst ein sehr guter Sportler (gewesen) zu sein?“ Meine Antwort auf diese Frage lautet immer: „Aus meiner Optik nein! Was ich allerdings als unabdingbare Voraussetzung erachte, ist ein ausserordentlich hoch ausgeprägtes Interesse am Sport generell sowie möglichst vielfältige Selbsterfahrungen – als Trainerin oder als Athlet – in der Praxis.“ Von einer derartigen Selbsterfahrung berichtet dieser Beitrag.
Die Rede ist von „Cycle Greater Yellowstone“ (CGY), einer Rad-Mehretappen-Veranstaltung, die vom 8. bis 14. August 2018 in seiner sechsten Austragung durchgeführt wurde. Die Eckdaten deuten auf ein ambitioniertes Unterfangen hin: In sieben Tagen soll eine Strecke von rund 800km mit insgesamt 7’000 Höhenmetern absolviert werden, wobei sich die 350 FahrerInnen immer in Höhenlagen zwischen 1’500 und 3’000 Meter über dem Meeresspiegel bewegen. Neben der sportlichen Herausforderung begeistert diese Tour vor allem durch ihre Streckenführung durch das faszinierende Umland des Yellowstone Nationalparks. Es ist ein Event, das nicht rennmässig absolviert wird – trotzdem offenbaren sich die sportlichen Ambitionen vieler TeilnehmerInnen sehr schnell! Wer morgens erst um 8.00 Uhr losfährt, gilt als „easy camper“ – die „hot shots“ stehen pünktlich zur Streckeneröffnung um 7.00 Uhr „sharp“ an der Startlinie.
How to get started!
Am Vorabend zur ersten Etappe wurden die TeilnehmerInnen nach Cody, Wyoming chauffiert. Dort bezogen wir das vom Veranstalter zur Verfügung gestellte Sherpa-Tent – eine Zeltunterbringung, die fortan für die FahrerInnen von Etappenort zum nächsten transportiert und eingerichtet wurde. Meine Zeltnummer war die 95, an jenem Abend lernte ich meine Nachbarn in den Zelten 92 bis 94 kennen: Amy, Steve, Tracey und Jane. Auf wunderbare Art repräsentieren sie die Vielfalt im Teilnehmerfeld von CGY: wir alle sind zwischen 50 und 60 Jahren, treiben regelmässig und zuweilen ambitioniert Sport und sehen die bevorstehende Tour als veritable persönliche Herausforderung. Jane ist eine ambitionierte Tennisspielerin, Tracey mag vor allem Crossfit, Steve offenbarte als stolzer Besitzer von 17 Bikes seine Radleidenschaft und Amy outete sich als passionierte Allrounderin. Als die Reihe an mir war, beschrieb ich meine Erfahrungen meiner ersten Teilnahme vor drei Jahren und erwähnte dabei, dass ich als Sportpsychologe arbeite. Sofort warf Jane die Frage in die Runde, wie man als Rookie diesen Mehretappen-Event – auch mental – in Angriff nehmen sollte, um die (Tor-)Tour erfolgreich zu bewältigen?
Auf dem Programm des ersten Tages standen 70 Meilen, mehrheitlich flach, wobei hohe Temperaturen und starker Wind angekündigt waren. Im Sinne von „keep it stupid simple“ gab ich zur Antwort: „Freut euch auf den tollen Start, endlich geht es los! Startet mit einem „big smile“ und grosser Vorfreude! Zuvor lohnt es, sich den Etappenplan gut einzuprägen, um die Herausforderung in Abschnitten zu bewältigen und dabei insbesondere die Verpflegungsstellen als mentale Orientierungspunkte und für die optimale Verpflegung zu nutzen. Nehmt euch vor, bewusst langsam zu starten, um ein gutes Bewegungsgefühl aufzubauen. Das flache Profil eignet sich sehr gut, um in einen Handlungsfluss zu kommen – let it flow!“
When the going gets tough!
Sonnenschein, schon frühmorgens warme Temperaturen und ein satter Rückenwind lud die FahrerInnen am nächsten Morgen tatsächlich dazu ein, schon vom Start weg flott in die Pedalen zu treten. Wer aber den Etappenplan gut studierte hatte, konnte erahnen, dass wir nicht den über die gesamte Strecke von einem höchst angenehmen Schiebewind profitieren würden. Das Thermometer stieg rasch über 30 Grad. Heftiger und böiger Gegenwind bei Temperaturen von bis zu 40 Grad gestalteten dann aber die letzten 15 Kilometer zur Tortur. In der abendlichen Diskussionsrunde war das Thema schnell gefunden: I got really mad! – lautete der Tenor, verbunden mit der Bitte an den Sportpsychologen um ein „mental coping“. Ich verwies auf ein möglichst gutes „Briefing“ der Etappe und gab folgende Ideen in die Diskussion: „Auch mich brachten Hitze und Gegenwind ans Limit! Da dies aber erst auf den letzten 15km eintraf, konnte ich mir relativierend sagen: «90km sind ja schon abgespult, den letzten Abschnitt schaffe ich auch noch! Just keep spinning!».
Zudem überlegte ich mir zwei Optionen: ich profitiere vom Windschatten eines etwas stärkeren Fahrers oder ich lege einen zusätzlichen Stopp ein mit genügend Flüssigkeitszufuhr und Verpflegung (koffeinhaltiger Gel) – was ich dann auch tat. Zusätzlich hatte ich mir im Vorfeld eine Playlist mit Musiktiteln genau zu diesem Thema zusammengestellt. In meinem Ohr hatte ich schon: «Runaway» von Bon Jovi! Damit kann ich mich gut von den störenden Windgedanken ablenken. Aus Jane sprudelte es sogleich heraus: „How funny, I also started singin’ my favorite song!“
I can’t ride in dark tunnels!
„You should give us all a talk“ – meinte Amy euphorisch und wies darauf hin, dass solche Ideen und mentalen Tipps ganz vielen TeilnehmerInnen helfen würden und sicher grosses Gehör fänden. Tatsächlich erachte ich Gruppen wie beispielsweise jene am CYG als sehr interessantes Klientel für unsere Anliegen der angewandten Sportpsychologie. Daraufhin bat mich Tracey um Rat. Sie hätte grosse Mühe, sich in unbeleuchteten Tunneln auf dem Rad zu bewegen, sehr schnell würden sich Befürchtungen oder gar Angstzustände bei ihr einstellen.
Da zu Beginn der zweiten Etappe drei solcher unbeleuchteter Tunnel auf dem Programm standen, war der Auftrag an mich klar. Ich explorierte kurz bisherige Erfahrungen und Verhaltensweisen und gab ihr folgende Leitideen (vgl. Gubelmann & Stoll, im Druck) mit: „Versuche heute Abend in deiner Vorstellung drei solcher Tunnel zu durchfahren, indem du dir folgende Verhaltensweisen vorgibst. Nimm dir deine Kollegin (Jane) mit rotem Rücklicht als Orientierungspunkt und folge diesem in einem für dich passenden Abstand. Stell dir vor, ein gleichmässiges, gemütliches Tempo zu fahren und richte deine Aufmerksamkeit immer wieder auch auf das (helle!) Tunnelende. Wechsle (vorwiegend) zwischen diesen Orientierungspunkten und stelle dir vor, wie diese Punkte dich zum Ziel (Tunnelende) führen. Vielleicht hälst du nach dem ersten Tunnel auch kurz an, atmest tief durch, trinkst einen Schluck und belohnst dich mit dem Zuspruch: «I did it!» Längerfristig könnte ich mir auch vorstellen, dass du im Training zuhause auf dem Ergometer vermehrt auch im Dunkeln fährst.“ Ich erinnere mich an Traceys glücklich strahlendes Gesicht am Etappenziel! „Yes, I did it – three times!“
Expect the unexpected!
Am vierten Tag war mit 61 Meilen nach Dubois die kürzeste Etappe der Woche angesagt. Das Streckenprofil versprach nur geringe Anforderungen, wenngleich die letzten 15 Meilen ansteigend verliefen. Ähnlich wie am ersten Tag herrschten auch dieses Mal unangenehme Gegenwindverhältnisse. Was aber am Abend in unserer Runde wesentlich mehr zu reden gab, war der Umstand, dass nach 61 Meilen das Ziel noch lange nicht erreicht war – satte und unerwartete zehn Kilometer galt es auch mental zusätzlich zu bewältigen! „I coudn’t cope with that – not knowing when it’s done!“ In der angeregten Diskussion verwies ich auf eine Idee, die im Olympischen Umfeld häufig diskutiert wird: „expect the unexpected“! Steve fragte, wie trainiert man das?
Ich gab zwei Beispiele: „Im Leichtathletiktraining absolvierten wir häufig Laufserien, z.B. 5 x 200m mit lohnender Erholung zwischen den Läufen. Plan und Ablauf gab ich als Trainer vor und die Athletinnen stellten sich darauf ein – und waren dann überrascht, als ich nach dem 5. Lauf ankündigte: «Okay, heute hängen wir noch einen 6. Lauf über 200m dran!» Auf die Frage nach dem «Warum sollen wir das tun?», entgegnete ich: «Es ist gut möglich, dass ein Wettkampfsprint, z.B. wegen Ausfall der Zeitmessung, wiederholt werden muss. Wenn wir sowas üben, hast du im Notfall ‚bessere mentale Karten’!» Steve machte ich den Vorschlag: „Vielleicht nimmst du dir bei deiner nächsten Ausfahrt zu Hause 30 Meilen vor und legst dir einen Würfel vor die Haustüre. Wenn du dann nach Hause kommst, würfelst du und fährst entsprechend der gewürfelten Augenzahl noch die Zusatzmeilen!“ Sehr lohnend sind auch eigene Wettkampferfahrungen. Ich erinnere mich zudem an den Swiss Alpine Marathon von 1999 in Davos, der damals laut Wettkampfprogramm über 72km führen sollte. Am Ende waren es deren 78! – und ich um eine ganz spannende Erfahrung reicher (vgl. Gubelmann & Schmid, 1999).
Do you have a plan?
Stellte der 4. Etappentag bereits alle TeilnehmerInnen vor eine mentale Herausforderung, wartete am 5. Tag mit den „100miles“ das „piece de résistence“ auf uns. Die als „out and back“-angelegte Strecke führte zweimal über den gleichen Pass, „the iconic Togwotee Pass“, wie im Tourprogramm vielversprechend nachzulesen war. Die Erwähnung des Kulminationspunktes von beinahe 3000m liess in mir Erinnerungen an die CGY-Austragung aufkommen, als wir im dichten Schneetreiben und grosser Kälte einen anderen 3000er bezwingen durften!
Aus organisatorischen Gründen mussten sich die Fahrerinnen am Vorabend entscheiden, wie weit sie am nächsten Tag zu radeln planten. Noch mit den mentalen Spuren des vierten Tages im Kopf verlief die abendliche Diskussionsrunde sehr lebendig. Niemand mochte sich definitiv festlegen, welche Strecke er oder sie sich am nächsten Tag vornehmen würde. Ich schlug folgendes Vorgehen vor: „Unabhängig davon, was ich in der offiziellen Liste eingetragen habe, gibt es drei Zielstellungen (vgl. Birrer et. al. 2010), die ich mir vornehme. Mein Minimalziel lautet: ich radle bis zur ersten Verpflegung und kehre um (=34 Meilen). Mein Normalziel (was ich mir zutraue, wenn ich mich einigermassen in Form fühle!) liegt im Erreichen des Passes (60 Meilen). Das Optimalziel (100 Meilen) kann ich nur dann anpeilen, wenn ich mich so fühle, dass ich „all in“ gehen kann! Mit glänzenden Augen stiessen Steve und ich einige Stunden später auf das Erreichen dieses grossen Ziels an!
Debriefing – what’s next!
Am letzten Abend traf sich unsere Gruppe von “Zelt 92-95“ ein letztes Mal in unserer mittlerweile heiss geliebten Diskussionsrunde. Es gab viel zu erzählen, zu lachen – bis spät in die Nacht hinein. Als ich die Frage stellte, wer von uns in Zukunft wieder an einer CGY-Ausgabe teilnehmen würde, blieben alle sehr zurückhaltend – was bei näherer Betrachtung nicht weiter verwunderlich erscheint! Zu nahe lagen die körperlichen Strapazen und die teilweise heftigen mentalen Eindrücke, als dass ein euphorischer Hauch die Vorstellung an eine zukünftige Teilnahme hätte befeuern könnte. Amy meinte, sie hätte den Überblick über die vergangenen Tage vollständig verloren. „I will take the map and write down all my experiences I had during this week“.
Ich ermunterte die Gruppe, dass wir Amys Beispiel folgen und uns diese Eindrücke (Debriefing) gegenseitig zukommen lassen könnten. Schnell war die Idee geboren, eine Whatsapp-Gruppe zu installieren und den gegenseitigen Austausch über dieses Medium weiter zu führen. Kaum eine Woche war vergangen, als die ersten Ideen für zukünftige gemeinsame Touren im Chat erschienen!
Epilog!
Meine zweite Teilnahme an CGY erwies sich in mancherlei Hinsicht als „Volltreffer“. Zum einen durfte ich einen äusserst ungezwungenen und regen Austausch an sportpsychologischen Themen geniessen, wie ich es in einer solchen Gruppe nicht erwartet hätte. Zum anderen profitierte ich meinerseits an diesem Austausch, indem ich entsprechende mentale Strategien wieder gezielt für meine sportlichen Herausforderungen einsetzte und wohl auch dadurch meine sportlichen Erwartungen deutlich übertraf. Ich hätte nicht gedacht, dass ich beinahe 800km verbunden mit einigen Höhenmetern in einem durchschnittlichen Tempo von rund 30km/h schaffen könnte! Eben – we should practise what we preach! Und wie es funktioniert!
Zur Profilseite von Dr. Hanspeter Gubelmann:
Quellen:
Alfermann, D. & Stoll, O. (2017). Sportpsychologie. Ein Lehrbuch in 12. Lektionen (5.Aufl.) Aachen: Meyer&Meyer.
Beckmann, J. & Elbe, A.-M. (2008). Praxis der Sportpsychologie im Wettkampf- und Leistungssport. Ballingen: Spitta-Verlag.
Birrer, D., Ruchti, E. & Morgan, G. (2010), Psyche: Theoretische Grundlagen und praktische Beispiele. Magglingen: Bundesamt für Sport (BASPO).
Gabler, H., Nitsch, J.R. & Singer, R. (2001). Einführung in die Sportpsychologie. Teil 2: Anwendungsfelder (2.Aufl.). Schorndorf: Hofmann.
Gubelmann, H.-P. & Schmid, J. (1999). ”The Crazy Peak Experience”: Coachingstrategien im Ultralangstreckenlauf am Beispiel des Swiss Alpine Marathons. In: K. Roth et al. (Hrsg.). Dimensionen und Visionen des Sports. dvs-Band 108, Hamburg: Cwalina, S. 179.
Gubelmann, H.-P. & Stoll, O. (im Druck). Aufmerksamkeitssteuerung und Vorstellungstraining. In: Staufenbiel, K., Liesenfeld, M. & Lobinger, B. (Hrsg). Angewandte Sportpsychologie im Leistungssport: Göttingen: Hogrefe.
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