Johannes Wunder: Sportpsychologie im Wettkampfklettern

Johannes Wunder
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Im Rahmen der Deutschen Klettermeisterschaft im neu geschaffenen Olympic-Combined-Format hat sich Johannes Wunder mit Urs Stöcker, dem Nationaltrainer Wettkampfklettern, getroffen. Der Klettertrainer gibt interessante Einblicke in seinen Alltag, beschreibt seine Philosophie und berichtet von Schwierigkeiten, mit denen seine Athleten auf dem Weg zu den Olympischen Spielen 2020 in Tokyo zu kämpfen haben. Die Sportpsychologie spielt dabei eine zunehmend wichtige Rolle.

Zum Thema Erwartungsdruck durch Olympiateilnahme

„Ich war etwas skeptisch“, beginnt Urs Stöcker seine Analyse der vergangenen Monate. Grund hierfür ist zweifelsohne sein großer Erfahrungsschatz. Stöcker, selbst viele Jahre aktiv an den bekanntesten Wänden der Szene – darunter der El Capitan und die Eigernordwand – kennt sich bestens aus im Klettersport. Als Trainer war er unter anderem beim Schweizer Verband für die Top-Athleten zuständig und ist seit gut einem Jahr für den Deutschen Alpenverein in Verantwortung. Seine Aufgabe: Olympia 2020. Seine Lösung: Struktur und Kontinuität. In Vorbereitung auf die ersten Wettkämpfe in diesem Jahr reiste das Team um den neuen Nationaltrainer im Februar nach Tokyo – dort wo 2020 die Entscheidung fällt, ob in der Vorbereitung solide und nachhaltig gearbeitet wurde.

„Alle waren hochmotiviert“, beschreibt Stöcker seine ersten Eindrücke vom Trainingsauftakt. Viele schweißtreibende Einheiten standen auf dem Programm, die Jungs und Mädels entwickelten sich in die richtige Richtung. „Alles lief gut, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass wir vorsichtig sein müssen.“ Der Nationaltrainer beschreibt eine sich entwickelnde Dynamik, geprägt von Leistungswillen und Motivation. „Das erzeugte aber bei allen Beteiligten viel Druck und noch mehr Erwartungen!“ Die Bestätigung erhielt der Bundestrainer dann bei den ersten Weltcup-Events im April. „Wir sind qualitativ gut dabei, aber der Druck hat uns gelähmt“, so Stöcker, der hinzufügt: „Schlecht waren wir zum Auftakt der Saison natürlich nicht, aber das Gesamtergebnis kann nicht zufriedenstellen.“

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„Olympic Combined“ – Chance und Belastung

Das neu geschaffene Format „Olympic Combined“ sieht der Klettertrainer als große Chance für alle Beteiligten, insbesondere natürlich für seine Schützlinge. „Jan Hojer zum Beispiel hatte sein Wettkampfhoch im Bouldern im Jahr 2015, danach wurde es für ihn schwierig, weiterhin konstant große Erfolge zu verbuchen.“ Für ihn sieht Stöcker neue Möglichkeiten, noch einmal ganz oben mitzumischen. Aber bis zur Entscheidung vom ausschließlichen Bouldern auf das neue Format mit Speed- und Lead-Klettern zu setzen, machen viele Gedanken die Runde. Der Bundestrainer bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass es um Spezialisierung und Generalisierung geht. „Wenn du dich wohl fühlst in einer Disziplin und sehr erfolgreich warst, ist es ein großer Schritt, den Fokus fortan auf mehrere Wettkampfformen gleichzeitig zu legen.“ Schließlich entscheiden sich viele Athleten bewusst für ihre Paradedisziplin und gegen Speed- und Lead-Klettern, wie in Hojers Fall. „Du musst open minded an die Sache herangehen. Das ist für viele nicht immer einfach – ich erkenne immer wieder verkopfte Muster bei meinen Athleten.“

Dies bringe auch im Trainings- und Wettkampfalltag manche Schwierigkeiten mit sich. Die Sportler wissen, dass ein falscher Tritt im Speed-Klettern ein Wettkampfaus bedeuten kann. Ähnlich ist es beim Lead-Klettern. „Zu wissen, dass man fünf, sechs Züge mehr braucht als sein Kontrahent, baut unheimlich viel Druck auf.“ Eine kleine Ausnahme stellt laut Stöcker das Bouldern dar. Es werden mehrere Boulderprobleme angegangen und jeder Athlet hat die Möglichkeit, seine Züge zu wiederholen. Der Bundestrainer geht sogar noch weiter mit seiner Analyse: „Wenn du im ersten Boulder extreme Schwierigkeiten hast und alle anderen den Top-Griff erreichen, kannst du danach noch korrigieren.“

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Ziel: Weiterentwicklung

Jede Disziplin hat also seine eigenen Gesetze und auch die Kombination der drei Wettkampfformen bringt neue, ungewohnte physische und vor allem psychische Herausforderungen mit sich. Urs Stöcker kennt die Hürden und sieht es als seine Aufgabe, bestmögliche Voraussetzungen zu schaffen, damit sich die Athleten optimal entwickeln können. „Für mich war es unheimlich wichtig, dass wir unsere beiden Stützpunkte mit Leben füllen und der Kader regelmäßig zusammen trainiert“, so der ehemalige Top-Bergsteiger, der selbst weiß wie es ist, mit anderen Top-Athleten, wie zum Beispiel Thomas Huber, zusammen zu arbeiten.

Die Marschroute ist klar: „Wir wollen unsere Kräfte bündeln und von den jeweiligen Spezialisten lernen.“ Die Synergien, die er dadurch in den Trainingsgruppen verspürt, empfindet er als bereichernd für alle Athleten. So bleibt auch genug Zeit, um die bereits bekannten Techniken aus der Sportpsychologie weiter zu verfeinern. Viele Sportler des Nationalkaders arbeiten mit Ritualen und Techniken im Bereich Visualisierung. „Wenn wir dann Jan beim Lösen von Boulderproblemen beobachten, erweitert das natürlich den Horizont. Umgekehrt kann er sich bei den Erfahrungen von Spezialisten im Lead-Klettern bedienen.“

Geringerer Erwartungsdruck durch Offenheit

Jeder Athlet weiß also im Idealfall, welche Stärken und Schwächen er hat und kann so entweder Hilfe anbieten oder ihm wird geholfen. Um die eigene Wahrnehmung zu verstärken, hat das Trainerteam um Urs Stöcker eine Charakteristik für seine Sportler und Sportlerinnen erarbeitet. Zu finden sind dort Merkmale zur Persönlichkeit, sowie Stärken und Schwächen. Auch die Athleten selbst werden in die Reflektion von eigenen Ergebnissen beziehungsweise Leistungen anderer eingebunden. „Ich lege großen Wert darauf, mit allen offen zu kommunizieren, jeder soll wissen, woran er ist!“ Stöcker verspricht sich dadurch den Erwartungsdruck geringer zu halten. Wenn jeder genau weiß, wo er im Kader steht und woran er arbeiten muss, existiert größtmögliche Transparenz, so ein Lösungsansatz vom Bundestrainer. Doch damit nicht genug: Unter den Nationaltrainern existiert auch eine sogenannte Potenzialeinschätzung für alle Schützlinge. Auf einer Bewertungsskala von eins bis fünf werden Punkte verteilt in Kategorien wie zum Beispiel „Umfeld“, „mentale Stärke“ oder „Technik“. Daraus wird entsprechend ein Ranking erstellt und dient als objektives Tool für Bewertungen der Bundestrainer. Eine weitere, ähnliche Skala wird zudem für Athletengespräche genutzt. Der Unterschied liegt darin, dass hierbei auch die Selbsteinschätzung der Sportler und des betreuenden Trainers einfließt.

Für die nahe Zukunft schmiedet Stöcker bereits konkrete Pläne, die pädagogisch-psychologische Ebene weiter auszubauen. Künftig wird es betreuende Sportpsychologen für das Team und für den einzelnen Athleten geben – getrennt voneinander, damit keine Rollenkonflikte entstehen und die Betreuung optimal verlaufen kann.

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