2020 feiert das Klettern eine Olympia-Premiere. Allerdings finden die Disziplinen, die bislang mehrheitlich von Spezialisten betrieben worden sind, in einer Art Mehrkampf statt. Die deutsche Top-Athletin Alma Bestvater bedeutet dies eine echte Herausforderung. Denn sie muss in bislang eher weniger geliebten Bereichen nun auch Bestleistungen bringen. Auf diesem Weg können Entspannungsverfahren helfen.
Zum Thema: Kombiniertes Achtsamkeits- und Entspannungstraining im Klettern
Eine hervorragende Methode, um auftretender Anspannung bei sportlicher Höchstleistung entgegen zu wirken, ist die Progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson. Zum einen kann die Muskulatur in Stresssituationen vor und während des Wettkampfes aktiv und bewusst entspannt werden. Zum anderen eignet sich die Methode auch direkt während der sportlichen Belastung.
Die ursprüngliche Technik vom Begründer dieser Entspannungstechnik geht auf eine aktive und gezielte Entspannung verschiedener Muskelgruppen des Körpers zurück. PMR ist in der Psychologie keine Unbekannte mehr, viele Studien wurden bereits zu den entsprechenden Auswirkungen publiziert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch das Ausführen von progressiver Muskelrelaxation ein Entspannungseffekt zu erwarten ist (Crawford et al., 2013). Durch die kontinuierliche Weiterentwicklung der Methodik (Joseph Wolpe) konnten zusätzlich zu den nachgewiesenen physischen auch vermehrt psychische Effekte vor allem in der Verhaltenstherapie festgestellt werden (APMR). In einer Studie von Dolbier und Rush (2012) wurde durch abbreviated-PMR eine Verminderung von Sorgen und Ängsten nachgewiesen.
Das einfache Entspannungstraining
PMR alleine wird häufig als einfaches Entspannungstraining bezeichnet. Tatsächlich können selbst Anfänger durch das Anspannen einer Muskelgruppe (z.B. Unterarme – Hand zur Faust) und dem aktiven wieder Entspannen spürbar ein Gefühl der Entspannung wahrnehmen. Viele Übungseinheiten beginnen mit den Armen, arbeiten sich dann durch den ganzen Körper und beenden die Entspannung mit den Füßen. Immer wieder die gleichen Abläufe, Muskulatur anspannen, tief Ein- und Ausatmen, die Spannung lösen und dieser nachspüren. Muskel für Muskel, Spannung für Spannung.
Ein wichtiges Instrument im täglichen Üben ist zweifelsohne ein Entspannungssignal, was in Form eines Bildes oder einfachen Wortes während des Übens automatisiert werden kann (Kaluza 2005). Die Ausatemphase wird also zum Beispiel durch ein Ruhewort (z.B. „Ruhe“ oder „Relax“) unterstützt. Kognitiv wird somit Ausatmen, ein selbstgewähltes Wort und Entspannung verknüpft. Dieser Punkt ist nicht nur in einer überfüllten U-Bahn nach einem stressigen Arbeitstag durchaus hilfreich. Auch Sportler können sich mit Hilfe des gelernten und konditionierten Ruhewortes über die eigene Atmung in einen Entspannungszustand versetzen. Dass die Atmung generell einen Effekt auf die körpereigenen Spannungszustände hat, wurde bereits mehrfach wissenschaftlich beschrieben (z.B. Lewis et al., 2007) und in der Praxis bereits von namhaften Sportlern, wie zum Beispiel Cristiano Ronaldo genutzt. Die Verknüpfung eines Ruhewortes ist hierbei ein zusätzliches, aber wichtiges „Add-On“, was dem einzelnen Sportler den Zugang zur Entspannung erleichtern soll.
Zauberwort Autosuggestion
Eine Variante der progressiven Muskelrelaxation geht auch in Richtung der Techniken aus dem autogenen Training, also der Autosuggestion. Nach mehreren Einheiten der traditionellen Methode kann sich der Übende nun vorstellen, wie er die Muskulatur anspannt, die Atmung und das Ruhewort nutzt und schließlich rein visuell wieder entspannt.
Beide Methoden sind aus eigener Praxiserfahrung insbesondere für Sportler denkbar. Die physische Entspannung klappt ebenso gut wie die mental eingeleitete. Das Ruhewort braucht natürlich etwas Zeit, um wahrnehmbare Effekte zu erzielen. In einem vorherigen Artikel habe ich über die Konsequenzangst und dem Panikgefühl im Lead-Klettern geschrieben. In dieser Thematik naheliegend wäre in jedem Fall die Anwendung der Techniken des PMR. Wenn die Unterarme langsam härter werden und die (Wettkampf)Situation immer bedrohlicher. Nun wäre genau an diesem Punkt in einer Ruheposition an der Wand eine „Mini-Einheit“ PMR denkbar. Ob aktiv ausgeführt, analog des bei Kletterern bekannten „Ausschüttelns“ mit der freien Hand oder eher „passiv“ mit Hilfe des Ruhewortes. So kann jeder Sportler für sich entscheiden, wie er die Techniken des PMR (Muskelanspannung, Ruhewort) nutzt, um wieder in eine gute Balance zu kommen. Es ist in diesem Kontext auch denkbar, dass die Techniken zur Reduktion von Angst und Panik genutzt werden (s. APMR).
Achtsamkeit
Bei all den Vorteilen der akuten Entspannungstechnik sollte während des Wettkampfes, wie zuletzt einer Olympic-Combined-Competition, nicht vergessen werden, dass auch die Zeit in den Pausen oder während der einzelnen Durchgänge genutzt werden kann, um effektiv entspannt – also nicht zu viel und an den richtigen Stellen – in die neue Aufgabe zu starten.
Zu guter Letzt ist für mich nicht nur der physische Aspekt mit seinen Auswirkungen auf die Psyche entscheidend, sondern gerade in der Übungsphase auch das „Bei sich sein“ – Achtsam mit seinem Körper und dessen Empfindungen. Jede Übungseinheit bietet viele Möglichkeiten die Spannungszustände des eigenen Körpers zu erkunden, Unruhe und Nervosität zu entdecken und mit Hilfe der Techniken eine Entspannung zu provozieren. Nur aus Achtsamkeit und den verschiedenen Techniken zusammen wächst ein Paket, was auch dem Profisportler persönlich und seiner Leistung zu Gute kommen wird. Denn beides bedingt sich!
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