Feature: Wie Standardsituationen die WM entscheiden und wie sie sich sportpsychologisch trainieren lassen

Die WM neigt sich langsam ihrem Ende zu. Unter den Halbfinalisten tummeln sich ausschließlich europäische Mannschaften, quasi eine inoffizielle EM bei einer Weltmeisterschaft. Auffällig ist, dass viele vermeintliche „Kleine“ wie Dänemark, Japan oder die Schweiz den Sprung ins Achtelfinale geschafft haben. Wie in den vorherigen Beiträgen erwähnt, scheint dies die WM der Mentalität statt der Qualität zu sein. Das vermeintliche (spielerische) Niveau dieses Turniers ist aus meiner Sicht im Vergleich vor vier Jahren in Brasilien abgeflacht. Nicht die schöne und spektakuläre, sondern die einfache und erfolgsorientierte Spielweise sind derzeit der Trumpf in Russland. Auffallend: Insbesondere die von vielen Fussballästheten als ein profanes Mittel angesehenen Standardsituationen entscheiden häufig über Sieg oder Niederlage.         

Zum Thema: Wie kann die Sportpsychologie unterstützend bei Standardsituationen behilflich sein?

Die Teams nutzen die Standards als Waffe. Wenn aus dem Spiel heraus nichts mehr geht, und das ist immer öfter der Fall, bleiben noch die ruhenden Bälle. TV-Experte Christoph Kramer sagte dazu:

„Inzwischen stehen fast alle Teams defensiv sehr gut, es wird immer  schwerer, offensiv etwas zu kreieren“. 

Christoph Kramer, Weltmeister 2014 und TV-Experte

Und wenn dann nichts mehr geht, sind eben die Spezialisten gefragt, ob vom ominösen Punkt, von der Eckfahne oder aus 20 oder mehr Metern. Verschiedene Trainingsformen kognitiver Fertigkeiten werden bereits seit langem als sportpsychologische Interventionen erfolgreich im Individualsport angewandt. Wie sich jedoch solche Interventionen auf die Mannschaftssportart Fussball übertragen lassen können, dazu haben sich Eberspächer und Immenroth (1998) im Rahmen eines Seminars des Schweizerischen Fussballverbandes Gedanken gemacht. In jenem Seminar waren das Mentale Mannschaftstraining (kurz MMT) und das Trainings der Kompetenzerwartung hauptsächlich der zu bearbeitenden Gegenstand. Wie sich die Selbstwirksamkeit im Fussball erhöhen lässt, dazu hat sich mein Kollege Dr. René Paasch bereits Gedanken gemacht (Link zu seinem Beitrag: https://www.die-sportpsychologen.de/2015/08/25/dr-rene-paasch-selbstwirksamkeit-im-fussball/). Vielmehr soll hier das MMT im Zentrum dieses Beitrags stehen.

Beispiel für die Durchführung des MMT im Fussball

Vorbereitung

Bevor das MMT (vgl. Abbildung 2) mit der jeweiligen Mannschaft durchgeführt werden kann, müssen konkrete Aufgabenstellungen formuliert werden. Da das MMT eine optimierte Interaktion der einzelnen Spieler in bestimmten Spielsituationen, d.h. eine verbesserte Koordination der Laufwege im Sinne der Spielidee intendiert, müssen bereits in der Vorbereitungsphase

  1. die Positionen und Laufwege der beteiligten Spieler exakt definiert und
  2. deren zeitlicher Ablauf (Timing) optimal aufeinander abgestimmt werden.

Insbesondere bezüglich des Timings ist neben der bildlichen Darstellung zusätzlich eine verbale Formulierung notwendig (Abb. 1 Eckstoßvariante). Die Durchführung des MMT basiert auf dem von Eberspächer für den Individualsport konzipierten Training der Vorstellungsregulation (vgl. Eberspächer, 1995).

Abbildung 2: Eckstoßvariante

Stufe 1: Die mentale zu trainierende Aufgabenstellung (SOLL-Zustand) muss zunächst vom Trainer mittels einer Instruktion auf die Spieler übermittelt werden. Häufig geschieht dies durch eine verbale Formulierung, welche jedoch schriftlich festgehalten und zusätzlich durch Abbildungen an der Taktiktafel oder ähnliches ergänzt werden sollte. Die Instruktion erfüllt für die einzelnen Spieler die Funktion einer einheitlichen und objektivierten Orientierungsgrundlage für die Durchführung des MMT.

Stufe 2: In der Stufe 2 soll der einzelne Spieler die Instruktion aus der individuellen Perspektive erstellen. Das bedeutet er stellt sich einen konkreten Bewegungsablauf innerhalb der kollektiven Aufgabenstellung unter Einbezug möglichst vieler Sinnesmodalitäten mit dem Ziel vor, eine präzise mündliche, ggf. auch schriftlich ausgearbeitete Selbstinstruktion dieser Bewegungsvorstellung anzufertigen.

Stufe 3: Jeder Spieler geht seine individuelle korrekte Selbstinstruktion so oft in Gedanken durch, bis dieser dazu in der Lage ist, diese fehlerfrei via Selbstgespräch abrufen zu können.

Stufe 4: Der in der Selbstinstruktion verbalisierte Bewegungsablauf wird in der vierten Stufe zunächst systematisiert, um dann so genannte Knotenpunkte (vgl. Hermann/Mayer, 2010) dieser Bewegung hervorheben zu können. Unter Knotenpunkten versteht man jene strukturellen Bewegungskomponenten bzw. Handlungsschritte, die für eine optimale Bewegungsausführung zwingend notwendig sind.

Stufe 5: Um den Rhythmus der in Stufe 4 reduzierten Knotenpunkte der realen Bewegungsausführung adäquat anzupassen, werden die einzelnen Handlungsschritte in Kurzformeln zusammengefasst. Das heißt, es erfolgt eine symbolische Markierung, welche dann bei der konkreten Bewegungsausführung schnell und problemlos abgerufen werden kann.

Abbildung 2: 5 Stufen des Mentalen Mannschaftstrainings (MMT) nach Eberspächer und Immenroth (1998)

Fazit: Wie wir gesehen haben, hat die angewandte Sportpsychologie nicht nur die Möglichkeit dem einzelnen Sportler zu helfen, sondern mittels dem MMT – einer erweiterten Form des Mentalen Trainings von Hans Eberspächer – die Performanceleistung zu steigern. Ob die einzelnen Mannschaften diese Trainingsmöglichkeit nutzen, kann ich an dieser Stelle nicht beantworten. Jedoch bietet sich dem Trainer und Mannschaft ein sehr nützliches Tool, hier Leistung in diesen Bereichen zu verbessern. Denkbar wäre der Einsatz dieses MMT bzw. individuellen MT auf den langen Reisen zu den unterschiedlichen Spielorten oder unmittelbar vor der Ausführung der Bewegung. Wir dürfen gespannt sein, ob die Standards auch bei den entscheidenden Partien wieder das Zünglein an der Waage spielen können.

 

Literatur:

Eberspächer, H./Immenroth, M.: Kognitives Fertigkeitstraining im Mannschaftssport – Praxisbericht über den Einsatz im Fußball. Psychologie und Sport. Schorndorf 5 (1998), Heft 1.

Eberspächer, H. (1995). Mentales Training (4. Aktualisierte Auflage). München: sportinform.

Mayer, J./Hermann, HD. (2010). Mentales Training. Grundlagen und Anwendung in Sport, Rehabilitation, Arbeit und Wirtschaft. (2. Vollständig überarbeitete Auflage). Heidelberg: Springer Verlag.

 

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Thorsten Loch
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