Prof. Dr. Oliver Stoll: April – der Monat, in dem sich alles verändert… (Streakrunning-Serie, Teil 5)

Veränderung. Genau, das macht ja auch den April in jedem Jahr mal wieder aus. Im April verändert sich alles! Die Luft, die Erde und das Wasser erwärmt sich, die Blumen und Bäume „explodieren“ förmlich, damit verbunden ist eine Farbenvielfalt und eine blütengeschwängerte Luft, die meine sensibilisierten Wahrnehmungsorgane Tango tanzen lassen. Aber bevor wir zu den Veränderungen kommen, schauen wir mal kurz in die Fakten.

Zum Thema: Streakrunning-Serie, Teil 5

Seit dem 1. Januar 2018 bin ich nun 1031 Kilometer gelaufen, und davon allein im April 265 Kilometer. Ein Drittel des Jahres ist nun vorbei und damit verbunden eben auch 121 Tage, an denen ich täglich gelaufen bin.

Dieser Monat war wild, schwierig, sinnlich, und extrem. Was den Streak betrifft, so war er zwar nie wirklich in Gefahr, aber ich war zweimal „am Limit“. Am Limit war ich jeweils an den Tagen, nachdem ich an Wettkämpfen teilgenommen hatte. Das war zum einen ein 16 Kilometer Trail-Lauf am Schladitzer See und am Wochenende darauf der Kyffhäuser Berglauf (22 Kilometer). Bei beiden Läufen waren natürlich ein paar Höhenmeter dabei und es waren wie schon gesagt: „Wettkämpfe“. Soll heißen: Kein „Vor sich hin joggen“ in flachem Gelände im gemächlichen Tempo zwischen 5:30 und 6:00 Minuten pro Kilometer – sondern Vollgas! Beim Neuseen TrailRUN am Schladitzer See ist mir sogar etwas gelungen, was ich nicht sehr häufig erlebe – ich landete auf Platz drei in meiner Altersklasse und stand auf dem Podium. Das konnte ich zwar beim „Kyffi“ nicht wiederholen (war auch kaum möglich, da dieser Lauf sehr viel besser besetzt ist), aber flott war der dann trotzdem mit einem Kilometerschnitt unter 5:50 Minuten pro Kilometer bei reichlich Höhenmetern. So oder so – schwierig waren die zwei, drei 3 Tage nach dem Lauf. Ich hatte mächtig Probleme (Schmerzen) im rechten Knie. Nicht das diese Erfahrung neu für mich gewesen wäre, denn das ist meine ganz persönliche „Achillessehne“, dass weiß ich. Ich habe mir wohl Mitte der 1980er Jahre (eine Zeit, in der ich „sehr extrem“ drauf war) dort den Meniskus etwas ruiniert. Also diesen Schmerz kenne ich. Ich habe jedoch um das Knie herum ganz gut Stützmuskulatur aufgebaut, dass die „normale Belastung“ abfängt, aber wenn Du – wie beim Kyffhäuser Berglauf – auf den letzten beiden Kilometern bergab „all in“ gehst, dann packt das die dann ohnehin angeschlagene Muskulatur auch nicht mehr. Das Ergebnis: Schmerzen – und eben immer noch das Ziel: Täglich laufen. Ich weiß, jeder von Euch sagt jetzt: „Hast Du eine Macke – Höre auf mit dem Kram, erhole dich“, aber meine Antwort dazu ist: „Ich weiß, dass das möglich ist, ohne großen Schaden zu nehmen.“ Und was ich dazu brauche, ist meine „Anti-Knie-Schmerz-Allzweckwaffe“ – meine Vibram 5-Fingers.

Abbildung: Olivers „Anti-Knie-Schmerz-Allzweckwaffe“

Einfache Umstellung

In den Tagen nach den Wettkämpfen habe ich mein Schuhwerk umgestellt. Von einem eher neutralen Schuh mit viel Dämpfung und hoher Sprengung (12mm) auf einen sogenannten „Natural-Running-Schuh“ ohne Dämpfung und ohne Sprengung. Die gibt es übrigens auch von anderen Marken (nicht nur von Vibram). Fakt ist: Zwei bis drei Tage, fünf bis sieben Kilometer nach den Wettkampfläufen, flach im Tempo zwischen 6:30 und 7:00 Minuten pro Kilometer und die Schmerzen sind weg. Warum das funktioniert? Keine Ahnung! Vielleicht haben wir hier ja einem Biomechaniker unter den Lesern, der mir das erklären kann. Ich weiß aber eben, dass das funktioniert. Der Wirkmechanismus dahinter interessiert mich erst einmal nicht weiter. Dennoch waren diese Tage – auch mental – sehr schwer, denn ich war mir nicht sicher, ob das wieder so funktioniert, wie in der Vergangenheit und Aufgeben mit dem Streaken will ich nicht, denn dazu ist mir das Täglich-Laufen zu sehr ans Herz gewachsen, weil ich wirklich sehr davon profitiere. Ich möchte hier nicht „Schön-Zeichnen“. Ich weiß, dass ich eine Entscheidung treffen muss. Entweder trainiere ich für Wettkämpfe oder ich mache mit „Täglich-Laufen“ weiter. Beides zusammen ist ein Tanz auf der Rasierklinge. Das geht früher oder später schief.

Und ansonsten? Ansonsten war – wie schon angedeutet der Monat der vielen Veränderungen. Neben den Veränderungen, die in der Natur stattfinden, verändert sich auch das Berufsleben eines Hochschullehrers. Es ist der Monat, in dem die Vorlesungszeit wieder beginnt. Vorlesungen, Seminare, Sprechstunde, Instituts- und Fakultätsratssitzungen, Mitarbeiter-Besprechungen und Konferenzen pressen mich in ein Korsett, aus dem ich nicht ausbrechen kann. Konferenzen erfordern auch noch Reisetätigkeit, die mich zeitlich eben auch in der Planung meiner Laufeinheiten ganz schön herausfordert. Hinzu kam auch noch die Tatsache, dass Frauke und ich unser Buch „Einmal war ich in Biel“ als Druckversion auf den Markt gebracht haben. Dazu mussten wir ein kleines Unternehmen gründen und sind natürlich sofort umsatzsteuerpflichtig geworden. Auch diese Organisationsarbeit musste irgendwie erledigt werden. Da sollte doch eigentlich eine sehr gute und bewusst-funktionale Tagesplanung von Nöten sein. Aber genau diesbezüglich kam mir ein psychologischer Prozess zu Hilfe, der uns allen besten bekannt ist – und zwar „Anpassung“. Wenn wir etwas oft genug tun, brauchen wir diesbezüglich nicht immer unsere volle Aufmerksamkeit, weil sich einiges an Informationsverarbeitungsprozessen „automatisiert“. Ganz konkret erlebte ich dies in Situationen, die mich selbst überrascht haben, und die ich mir nur so im Nachhinein erklären kann. Wenn ich morgens beim Kaffee sitze und mit Frauke und mit unseren Kindern rede, dann höre ich völlig unbewusst, neben den Verkehrsnachrichten mit Fokus auf die A14 auch den Wetterbericht. Wenn ich das Haus verlasse, habe ich immer meine (perfekt gepackte) Arbeitstasche und meinen Laufrucksack dabei. Die Zeit nach Halle verfliegt mental, weil ich mich während der Fahrt mit den anstehenden Aufgaben auseinandersetze. Komm ich dann im Büro an – und finde eine Stunde Zeit für mich, bin überrascht, dass ich immer die Wetter angepassten Klamotten dabei habe, um Laufen zu gehen. Das Einpacken passiert mittlerweile automatisch – unbewusst. Ich erledige mittlerweile auch „Wege in der Stadt“ zu Fuß – kein Auto, keine Straßenbahn, kein Fahrrad. Zehn bis 15 Kilometer kann man auch laufen. So geschehen auch an einem Mittwoch, an dem ich zum Fakultätsrat gelaufen bin – meine normale Hose und das Hemd sowie ein Handtuch im Rucksack. Sechs Kilometer hin und zurück – kein Problem. Ich war während des Laufes dorthin und zurück so sehr in Gedanken mit den zu behandelnden Themen beschäftigt, dass ich Abends zuhause kurz darüber nachdenken musste, ob und wenn ja, wo – ich überhaupt schon gelaufen bin? Fazit: Einiges meiner Lauferei scheint in den mentalen „Automatik-Modus“ abzudriften (so wie das Zähneputzen). Das ist sehr funktional – aber es geht dabei auch einiges an Emotionalität und Genuss verloren.

Buch-Tipp:

Prof. Dr. Oliver Stoll: Einmal war ich in Biel (Buch-Bestellung)

Abbildung: Genuss pur – Laufen mit Frauke

Wochenendgenüsse

Genuss hole ich mir nach wie vor am Wochenende, wenn ich mit Frauke unterwegs sein kann. Der Frühling lockt auch sie immer häufiger mit mir nach draußen und am schönsten, lustigsten und genussvollsten ist eben das gemeinsame Erleben draußen im warmen Frühling, ob am Strand mit direkten Möglichkeiten, sich im Wasser abkühlen zu können oder im Wald, in dem uns zur Zeit der Bärlauch-Geruch förmlich betäubt.

Zwei Themen will ich aber noch kurz ansprechen. Ich war ja im April in Köln zur „International Conference of Behavioral Addictions“ – also einer Tagung für Vehaltenssüchte. Ich werde ja logischerweise immer wieder von verschiedenen Menschen „angezählt“, von wegen ich sei süchtig, und würde meiner Gesundheit schaden. „Exercise Dependence“ – also Sportsucht – gehört ja auch zu den sogenannten Verhaltenssüchten, und ich forsche ja auch in diesem Bereich. Kann sein, dass ich möglicherweise mal süchtig war, aber das ist gut 30 Jahre her. Was mich jedoch sehr optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass selbst in diesem Gremium von anerkannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern darüber diskutiert wird, ob wir Forscher und somit auch die Gesellschaft zunehmend dazu neigen, sogenanntes “exzessives Verhalten“ zu schnell zu pathologisieren. Zu einer Suchterkrankung zählt eben vor allen Dingen auch, dass der Klient unter diesem Verhalten leidet. Fakt ist aber auch, dass weder ich, noch viele anderen Menschen, die täglich laufen, darunter leiden, sondern wir lieben das, was wir tun. Eine harmonische Leidenschaft kann niemals zu einer Suchterkrankung führen. Zwanghafte Leidenschaft ist etwas komplett anderes.

Und abschließend weiß ich nun, was ein „Influencer“ ist. Meine Schwiegertochter Anne läuft täglich, mittlerweile seit 18 Tagen.

 

Die komplette Serie:

Prof. Dr. Oliver Stoll: Streakrunning ist „Mentales Training“ (Streakrunning-Serie, Teil 1)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Grenzenlose Gelassenheit (Streakrunning-Serie, Teil 2)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Die Sinne schärfen sich (Streakrunning-Serie, Teil 3)

Prof. Dr. Oliver Stoll: Gefangen zwischen Leistungsorientierung und Bauchgefühl (Streakrunning-Serie, Teil 4)

 

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