Seit einigen Jahren ist die Anstellung von Sportpsychologen in Fußball-Nachwuchsleistungszentren verpflichtend. Damit ist der persönliche Kontakt des Sportlers mit dem Sportpsychologen aber noch nicht hergestellt. Und in den Profi-Teams steht es um den Zugang zu sportpsychologischer Betreuung deutlich schlechter. Für Aufsehen hat kürzlich ein Spiegel-Artikel über Per Mertesacker gesorgt. Immer wieder frage ich mich also, ob man Sportler – besonders nach psychisch und physisch belastenden Phasen wie schweren Niederlagen, persönlichen Konflikten oder Verletzungen oder wenn die im Wettkampf gezeigt Leistung von der im Training abweicht – zum Sportpsychologen zwingen sollte?
Zum Thema: Fallbeispiel zur Etablierung eines sportpsychologischen Angebots in einem Sportverein
Meine ehrliche Antwort: Ja – aber mit einem Augenzwinkern und der „Clownsnase“. Natürlich kann niemand tatsächlich zu sportpsychologischen Methoden gezwungen werden. Zumal: Wenn keine Motivation und Bereitschaft für eine Zusammenarbeit besteht, sinken die Erfolgschancen nahe Null. Dennoch sollte mit der Sportpsychologie im aktuellen Leistungssport so verfahren werden wie mit Ernährungsberatung, Physiotherapie, Athletiktraining oder der Sportmedizin. Diese sind fest im Wochenplan eines Profis verankert. Kein ambitionierter Sportler wird sich weigern, Unterstützung in diesen Bereichen anzunehmen. Warum soll es anders sein, wenn es um sportpsychologische Unterstützung geht?
Ein konkretes Beispiel: Ein Drittligist – die Sportart spielt keine Rolle – meldet sich beim Sportpsychologen mit der Bitte um sportpsychologische Betreuung, da die Mannschaft acht Spieltage vor Abschluss der Saison auf einem Abstiegsplatz liegt. Im Verein herrscht Panik, da zuletzt eine neue Geschäftsstelle eröffnet wurde und der Verein für die kommende Saison bereits Sponsoren gewonnen hat. Bei einem Abstieg wäre die Geschäftsstelle nicht weiter zu betreiben und auch kein Sponsor mehr in Sicht. Die Gefahr: Der Verein würde in die Bedeutungslosigkeit versinken. Der Kontakt zwischen Sportpsychologen und dem Trainer, dem Manager und der Spielern ist sehr gut. Die Offiziellen betonen, dass die Spieler auch sportpsychologische Einzelberatung auf Kosten des Vereins annehmen sollen, damit sich am Ende der Saison keiner vorwerfen lassen muss, nicht alles für den Klassenerhalt getan zu haben.
Eine unethische Geschichte
Drei Spieltage später mit einer Niederlage und zwei Siegen steht die Mannschaft weiter auf einem Abstiegsplatz. Da kein Spieler das Angebot zum persönlichen Coaching angenommen hat, kommt es in Absprache mit Trainer und Management zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Beim nächsten Kontakt mit der Mannschaft spricht der Sportpsychologe direkt zur Mannschaft: „Leute, da wir nach wie vor auf einem Abstiegsplatz stehen, jedoch bisher keiner bei mir nach einem Einzelgespräch nachgefragt hat, haben euer Trainer und ich einen Vorschlag. Falls das nächste Spiel nicht erfolgreich läuft, suchen wir uns drei Spieler aus der Mannschaft aus. Diese haben mit dem Sportpsychologen ein Einzelgespräch zu führen!“
Die Auflösung dieser anscheinend unprofessionellen und unethischen Vorgehensweise folgt: „Aber, Leute, nehmt das mal sportlich! Fasst das bitte nicht als Bestrafung auf, sondern als Chance auf eine Weiterentwicklung im mentalen Bereich. Seid ihr dabei?“. Jeder einzelne Spieler stimmte der Vorgehensweise zu. Das nächste Spiel endete dann nach einer großartigen Aufholjagd unentschieden. Die angedeutete Maßnahme musste nicht umgesetzt werden, der Klassenerhalt wurde erreicht. Einige Spieler traten aber im Nachhinein neugierig mit der Frage an den Sportpsychologen heran „Hättest Du mich ausgewählt?“ – „Ja, Du warst ein Perspektivspieler!“
Wenig Wissen über die Sportpsychologie
An der Maßnahme könnte kritisiert werden, dass die Spieler im Rahmen der sozialen Erwünschtheit oder des Gruppendrucks sich nicht getraut hätten, sich gegen diese Maßnahme zu stellen. Letztendlich muss man Leistungssportlern aber zutrauen, ihre Meinung eigenverantwortlich kund zu tun. Selbstverständlich wäre in letzter Konsequenz natürlich niemand zum Gespräch gezwungen worden. Das gesamte Vorgehen muss – bei aller Ernsthaftigkeit der aktuellen Situation der Mannschaft – mit ganz viel Humor „gewürzt“ werden!
Wuthrich und Frei (2015) sehen die Uneinsichtigkeit Betroffener als größtes Hindernis, um sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Psychotherapie ist selbstverständlich nicht mit Sportpsychologie gleichzusetzen, dennoch ist der Ansatz, das genannte Hindernis zu überwinden sehr wohl übertragbar. Durch Psychoedukation über Inhalte, Möglichkeiten und Effektivität von psychotherapeutischen Methoden steigt die Wahrscheinlichkeit, dass therapeutische Unterstützung in Anspruch genommen wird. In einer Studie von Jürgen Walter & Valeria Eckardt (2016) stellte sich heraus, dass sich rund 77 Prozent der teilnehmenden Sportler, Trainer und Funktionäre für wenig bis gar nicht über Leistungsangebote der Sportpsychologie informiert fühlen. Ein Ansatz könnte daher eine gezielte Aufklärung sein, um das „Hindernis Kontaktaufnahme“ zu erleichtern.
Jürgen Walter und Valeria Eckardt: Das Informationsproblem der Sportpsychologie
Film “Praxis der Sportpsychologie”
Jürgen Walter ist im Sinne der Sportpsychologie auch zum Filmemacher geworden. Wenn Sie seine Dokumentation, die unter anderem im Bayrischen Rundfunk zu sehen war, auf DVD erhalten wollen, können Sie den Film (u.a. mit Mats Hummels) hier beziehen:
http://www.walter-sportpsychologie.de/aktuelle-filmprojekte-praxis-der-sportpsychologie.html
Literatur:
Wuthrich, V. M. & Frei, J. (2015). Barriers to treatment for older adults seeking psychological therapy. International Psychogeriatrics, 27 (7), 1227-1236.
Walter, J. & Eckardt, V. (2016). Das Informationsproblem der Sportpsychologie. Online verfügbar unter: http://www.die-sportpsychologen.de/2016/06/15/juergen-walter-und-valeria-eckardt-das-informationsproblem-der-sportpsychologie/.
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