Prof. Dr. Oliver Stoll: Streakrunning ist „Mentales Training“ (Streakrunning-Serie, Teil 1)

Wer diese Überschrift liest, wird sicherlich sofort die Stirn runzeln und den Kopf schütteln. Na ja, also zumindest diejenigen, die wissen was „Streakrunning“ ist. Hinter diesem Begriff versteckt sich nichts anderes als „Tägliches Laufen“ – an sieben Tagen in der Woche, in den 53 Wochen im Jahr. Also an jedem einzelnen der 365 Tage, die ein Jahr hat – und zwar mindestens eine Meile, also ca. 1,6 Kilometer pro Tag (siehe Wikipedia). Und da werden einige Leser wahrscheinlich wieder den Kopf schütteln. Warum sollte man so etwas tun? Nun gut – eine Antwort auf diese Frage fällt mir auch schwer, weil ich dazu weit ausholen müsste, bzw. viel mehr Platz bräuchte, als im Rahmen eines Blog-Beitrags möglich wäre. Aber wer hier sofort eine Antwort haben möchte, liest am besten das brandaktuelle Buch von Lutz Balschuweit, einem Streakrunner, der das mittlerweile seit sechs Jahren macht und so auf ca. 50.000 Laufkilometer gekommen ist.

Zum Thema: Streakrunning-Serie, Teil 1

Die Läufer unter unseren Lesern werden jetzt sicherlich auch erst einmal Lächeln, denn 1,6 Kilometer pro Tag sind roundabout 600 Kilometer im Jahr. Das ist für einen ambitionierten Marathonläufer eher „nichts“. Professionelle Marathonläufer machen das in zwei Wochen, ambitionierte Marathon-Hobby-Läufer schaffen das in zwei Monaten und selbst jemand, der einfach gerne joggen geht, aber es nicht ernst wirklich nimmt, braucht dafür vielleicht ein halbes Jahr. Es wird also schnell klar, dass das „Mindestmaß“ für Streaker nicht wirklich eine körperliche Herausforderung ist.

Aber hier sind wir dann auch schon beim Thema. Die meisten Streaker laufen natürlich deutlich mehr als nur die eine Meile am Tag. Die „eine Meile“ ist vielmehr nur der „Notnagel“, wenn eigentlich gar nichts mehr geht. Und dann machen die Streaker eben trotzdem diese eine Meile. Wer macht so etwas? Wieder eine gute Frage. Streaker kommen aus allen Schichten der Gesellschaft (Angestellte, Beamte, Selbstständige, Arbeitslose, Männer und Frauen….persönliche, politische oder sexuelle Einstellungen, Hautfarbe oder Herkunft spielen keine Rolle). Es gibt natürlich auch so etwas wie „Vereinigungen“ und natürlich auch Netzwerke, in denen sich Streaker austauschen. Interessanterweise existiert „NULL“ wissenschaftliche Literatur zu diesem Sportler-Klientel. Aber man findet sie im Internet und mitunter auch in den sozialen Medien. Auf Facebook z.B. gibt es eine (geschlossene) Gruppe, in der aktuell 109 Mitglieder miteinander vernetzt sind. Dort tummeln sich nicht nur Läufer, die streaken, sondern auch welche, die das eine Zeit lang gemacht haben, jetzt aber andere Ziele haben, sich aber diesen Menschen mit ihrer Aktivität sehr verbunden fühlen. Oder auch diejenigen, die sich einfach nur für das Thema interessieren und mehr „wissen“ wollen. Aber dort tummeln sich eben auch welche, die aktuell tatsächlich streaken. Diese Gruppe ist (neben einigen wenigen anderen Möglichkeiten) ein „sicherer“ Ort für Austausch über Erfahrungen und Informationsaustausch unter Menschen, die etwas tun, für die man „draußen“ auch oftmals stigmatisiert sind. „Verrückt“ und „laufsüchtig“ – das sind die Adjektive, mit denen die „Nicht-Streakende“ Öffentlichkeit diese Menschen häufig betitelt.

Eine andere Einstellung zum Laufen

Aber wie so oft  sind dies lediglich Vorurteile – die Tatsachen sehen meines Erachtens anders aus. Streakrunner wissen in der Regel genau, was sie da machen. Sie kennen die Gefahren, aber sie wissen auch um den Benefit dieser Aktivität. Überforderungs- und Überlastungsprobleme sind sicherlich eine der möglichen Gefahren. Auch das „krank werden“ und trotzdem laufen kann problematisch werden. Streaker sind aber in der Regel keine Laufanfänger. Vielmehr sind es häufig eher „alte Laufhäsinnen bzw. Laufhasen“ mit jahrelanger Erfahrung, die schon viel in ihrem Leben erreicht und erlebt haben.

Häufig hat sich nur die Einstellung zum Laufen verändert. Es geht diesen Läuferinnen und Läufern nicht mehr um die Verbesserung irgendwelche Laufzeiten, oder etwa die nächste Stufe des Ultra-Running zu erreichen (100 Kilometer kann ich – jetzt will ich wissen, ob ich 100 Meilen laufen kann), sondern es geht den meisten Streakern um eine grundlegende Einstellung zu sich, ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit, zur Natur und zum Leben mit sich und auch anderen Menschen im Allgemeinen. Und um den Spaß am Laufen! Im Streakrunning gibt es keine offiziellen und kontrollierten Wettkämpfe, keine von einem Sportverband ausgestellten Urkunden oder Siegerehrungen, keine Finisher-Medaillen oder Finisher T-Shirts (warum – es gibt ja kein „Ziel“), es gibt keine Preisgelder, keine öffentliche Belobigungen oder andere öffentliche Ehrungen. Die meisten Streaker „werben“ auch nicht dafür, gehen damit nicht hausieren. Und das ist schon etwas Besonderes in Zeiten von Facebook und Instagram, in der fast jeder, der ab und zu mal einen Kilometer joggt, dies der geneigten Öffentlichkeit über Social-Media mitteilen muss.

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Mentale Herausforderung

Aber trotzdem ist es eine Herausforderung, wirklich jeden Tag laufen zu gehen. Und sportlich aktive Menschen lieben natürlich – „selbst wenn es nur ein wenig ist“ – Herausforderungen. Worin also besteht die Herausforderung, wenn es keine – wie oben schon angedeutet – körperliche Herausforderung ist? Ganz einfach – es ist eine mentale Herausforderung!

Die mentale Herausforderung besteht darin, sich eben jeden Tag aufzuraffen und laufen zu gehen, unabhängig von Uhrzeit, Wetter, Tagesgeschäft, privaten Problemen, Unwohlsein, „keine Lust“ oder anderen Begleitumständen und anderen sportlichen Aktivitätsmöglichkeiten. Und darin eben laufen zu gehen, obwohl man ganz sicher weiß, das Minimum eine Meile immer gehen sollte. Aber etwas zu wissen, oder aber nicht nur zu wissen, sondern es auch zu tun, sind zwei verschiedene Angelegenheiten. In der Willenspsychologie reden wir davon „Zielintentionen“ in „Ausführungsintentionen“ zu überführen, was dann die Wahrscheinlichkeit erhöht, das man tatsächlich körperlich aktiv wird. Nicht nur eine mentale Herausforderung, sondern auch eine körperliche Herausforderung wird es, wenn Streaker neben dem Aufrechterhalten des Streak auch um Wettkampfziele geht. Dann wird es wirklich hart, denn eine Leistungsverbesserung benötigt auch Pausen zur Erholung, ansonsten bleibt der Trainingseffekt aus. Und auch das wissen natürlich auch Streakrunner, und die meisten geben eben dann auch das Laufen „mit Startnummer“ früher oder später auf. Diese Entscheidung ist wahrscheinlich eine essentielle – früher oder später.

Der Streak – nicht mehr und nicht weniger

Oder aber, stellen Sie sich die Diskussionen mit dem inneren Schweinhund vor, wenn man am Tag vorher den Rennsteig-Supermarathon von 72 km erfolgreich absolviert hat und nun raus muss, um mindestens diese eine Meile zu laufen.  Ich sage mal „Aua“……Aber es geht auch um ganz einfache Herausforderungen, die groß werden können. Stellen Sie sich vor, Sie planen eine Reise nach Fern-Ost und sie wissen, dass der Flug allein 15 Stunden dauert – plus sechs Stunden für die Anreise zum Flughafen und den Transfer ins Hotel. Irgendwann und irgendwo muss dann in der verbleibenden Zeit die Meile gelaufen werden. Da können  sich schon sehr schräge und mitunter lustige Geschichten entwickeln. Wenn Sie also bei ihrer nächste Reise am Flughafen mal einen Menschen die Gänge rauf und runterjoggen sehen, dann wissen Sie, das Sie gerade einen Streaker gesehen haben. Um es noch einmal zu betonen, diese Menschen sind deswegen nicht süchtig, sondern sie wollen einfach nur den Streak aufrecht erhalten. Nicht mehr – aber eben auch nicht weniger.

Und nun kommt mein „Outing“. Ich bin ein Streaker – und zwar seit drei Wochen. Meine täglichen Laufdistanzen bewegen sich derzeit zwischen fünf und zwölf Kilometer. Ich weiß, dass ist erst einmal nichts Besonderes und das soll es eigentlich auch nicht sein. Ich habe das schon mal im Jahr 2014 gemacht. Da hatte ich aber eben noch Wettkampfziele und deswegen das Streaken nach  einem Monat aufgegeben. Ich möchte das aber nun gerne mal – zunächst ein Jahr lang – durchziehen. Und ich werde Euch teilhaben lassen, jeden Monat, einmal im Rahmen eines Blogbeitrags. Ich lass Euch wissen, ob und wenn ja, was sich bei mir verändert. Es werden „harte Tage“ kommen und ich weiß auch, es werden „sensationelle Erfahrungen“ auf mich warten. Vermutlich wird sich mein Hang zum „Perfektionismus“ noch etwas verschärfen, aber auch meine Selbstmanagement-Fähigkeiten werden sich verbessern (so hoffe ich). Selbstmotivationsstrategien – die Arbeit mit meinen „inneren Bilder“, die Art und Weise, wie ich mich über den Tag selbst instruiere, wird sich intensivieren (vermute ich).

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Angst spielt auch eine Rolle

Ich bin dankbar dafür, eine Frau an meiner Seite zu haben, die mich dafür nicht „verurteilt“, sondern es als für das „Normalste der Welt hält“, sich jeden Tag mindestens eine Stunde lang körperlich zu aktivieren. Angst habe ich aber auch! Nämlich davor, dass das Laufen irgendwie so verständlich wird, wie das tägliche „Zähne putzen“ und das somit meine so geliebte Leidenschaft an „Glanz“ verliert.

Freuen würde ich mich über intensiven Austausch mit denjenigen, die das Thema interessiert und sich über die sportpsychologischen Anforderungen und Konsequenzen von Streakrunning interessieren. Das muss nicht mal unbedingt Streakrunning sein, sondern eine völlig anders geartete, tägliche Aktivität, die ihr machen wollt oder machen müsst. Ich bin gespannt, ob ich das schaffe und wie ich mit den möglichen Problemen umgehen werde und was „am Ende des Tages“…nein „am Ende des Jahres“ übrig bleibt. Ich lasse es Euch wissen.

 

Zum E-Book von Prof. Dr. Oliver Stoll, welches sich mit seiner Teilnahme an den 100 Kilometer von Biel beschäftigt:

http://einmalwarichinbiel.de

 

Quellen

Balschuweit, L. (2018). Lebenslauf – kein Wettkampf. (Internet: https://balschuweit.de/blog2/)

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Streaker

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Prof. Dr. Oliver Stoll
Prof. Dr. Oliver Stollhttp://www.die-sportpsychologen.de/oliver-stoll/

Sportarten: Eishockey, Handball, Ultralang- und Langstreckenlauf, Triathlon, Biathlon, Wasserspringen, Boxen, Leichtathletik, Schwimmen, Floorball uvm.

Leipzig, Deutschland

+49 (0)173 4649267

E-Mail-Anfrage an o.stoll@die-sportpsychologen.de

4 Kommentare

  1. Täglichlaufen. Ich halte Täglichlaufen für die natürlichste Bewegungsform überhaupt. Täglichlaufen ist eigentlich ziemlich unspektakulär. Ich tue es einfach. Täglich. Ich will mit meinen Lauftypus niemanden missionieren. Täglichlaufen ist ein spezieller Lauftypus mit Vor- und Nachteilen, letztendlich aber nichts Besonderes. Leider können sich heutzutage die wenigsten Menschen nicht einmal mehr das vorstellen und noch weniger werden es je praktizieren. Und diejenigen, die es versuchen, werden nach ein paar Tagen ihr Experiment abbrechen. Eine verschwindend geringe Minderheit vermag einen vollkommenen Sinn darin erkennen und kann dem Täglichlaufen eine tiefere Bedeutung verleihen. Ich hingegen versuche es zu verinnerlichen. Das Geheimnis im langfristigen Täglichlaufen liegt in der mentalen Einstellung und weiterhin in der Einsicht, nicht Jahre erreichen zu wollen, sondern nur jeweils den aktuellen Tag.

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