Prof. Dr. Oliver Stoll: Braucht Timo Werner einen Sportpsychiater?

Als ich kürzlich wie üblich die Sportberichterstattung konsumierte, landete ich zur Abwechslung bei einem Beitrag des Spiegels. Dort äußerte sich Sportpsychiater Karl-Jürgen Bär der Universität Jena zum mutmaßlichen „Seelenzustand“ von Timo Werner. Der Nationalspieler von RB Leipzig hatte nach Verletzungsproblemen gerade wieder zurück ins Team gefunden. Schon vor diesem Artikel wurde in der Presse immer wieder gemutmaßt, dass der junge Leipziger Stürmer, mit den Problemen, die er im Kiefer- und Nackenbereich hatte (mutmaßlich erlitten in seinem Spiel in der Nationalmannschaft), und der auch in Istanbul in der Champions-League mit Problemen im Gehör- und Gleichgewichtsorgan ausgewechselt werden musste, unter Umständen mit einem psycho-pathologischen Problem zu kämpfen hätte. Konkret mit einem Stressproblem, dass mitunter zu einem Erschöpfungssyndrom führen kann. Naja, dass lasse ich hier jetzt erst einmal unkommentiert so stehen…

Zum Thema: Über die unterschiedlichen Rollen von Sportpsychologen und Sportpsychiatern

Im Spiegel-Interview, dessen Kernaussagen auch in einem RB Leipzig Fan-Blog (siehe Quellen) wiedergegeben werden, finden wir dann eine interessante Aussage. Angesprochen auf die bei Timo Werner von Ralph Hasenhüttl kürzlich wahrgenommene „mentale Extrembelastung“ erklärt der kommissarische Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Jena: „Junge Athleten neigen dazu, durch schnelle Erfolge und öffentliche Aufmerksamkeit die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit zu verleugnen. Dadurch können sie unbemerkt in gefährliche Zustände der Erschöpfung geraten.“

Es folgen weitere Ausführungen über den „problematischen Leistungsfußball“ sowie der subjektiven Wahrnehmung des Herrn Bär, dass sich diese Fälle in seiner Sprechstunde häufen würden und dann noch folgende Einlassung: „Auch wenn immer mehr Profivereine mit Sportpsychologen zusammenarbeiten, sei die Situation nicht optimal. Sportpsychologen haben in der Regel keine therapeutische Ausbildung. Sie werden von den Vereinen hauptsächlich zur Leistungsoptimierung eingestellt“, so Karl-Jürgen Bär. „Zur Verbesserung der psychischen Gesundheit brauchte es mehr beratende Sportpsychiater. So etwas gäbe es im Profifußball aber gar nicht.“

Fehlendes Wissen über die Sportpsychologie

Mit Verlaub, Herr Bär – da wissen Sie leider nicht genau, welche Rolle Sportpsychologen spielen, wie ihre Ausbildung aussieht und welches Selbstverständnis Sportpsychologen in Deutschland haben. Schauen wir doch erst einmal in die Statuten der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (also dem Berufsverband der deutschen Sportpsychologen). Dort steht zum Selbstverständnis in Abschnitt 7:

„Voraussetzung für die praktisch sportpsychologische Berufstätigkeit ist der Einsatz wissenschaftlich fundierter Methoden zur Diagnostik und Intervention, die insbesondere dem Qualitätsstandard der psychologischen Fachverbände entsprechen. Sportpsychologische Intervention in der Praxis des Sports ist die professionelle Hilfestellung für das Vorbeugen, Erkennen und Lösen psychosozialer Probleme in den verschiedenen Anwendungsfeldern der Sportpsychologie (Leistungs-, Schul-, Freizeit-, Gesundheits- und Rehabilitationssports). Die Behandlung klinisch-psychologischer Krankheitsbilder und die Anwendung psychotherapeutischer Verfahren ist ohne fundierte und anerkannte Psychotherapie-Ausbildung nicht zulässig. Die in der Sportpraxis sportpsychologisch Tätigen sind dazu verpflichtet, gemäß den berufsethischen Richtlinien der psychologischen Fachverbände DGP und bdp und den berufsethischen Richtlinien der asp zu handeln.“ (Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (o.J.).

Mein klinisches Auffangnetz

Tja, damit ist rein theoretisch auch schon alles gesagt. Aber ich möchte noch einmal im Detail auf Karl-Jürgen Bärs Aussage (“Sportpsychologen haben in der Regel keine therapeutische Ausbildung. Sie werden von den Vereinen hauptsächlich zur Leistungsoptimierung eingestellt. … Zur Verbesserung der psychischen Gesundheit brauche es mehr beratende Sportpsychiater. So etwas gäbe es im Profifußball aber gar nicht.”) eingehen:

Richtig ist: Sportpsychologen haben in der Regel keine therapeutische Ausbildung. Falsch ist: Sie werden von den Vereinen hauptsächlich zur Leistungsoptimierung eingestellt. Sportpsychologen kümmern sich neben der Aufgabe der Leistungsoptimierung eben auch um Fragen der Persönlichkeitsentwicklung (dies vor allen Dingen in den Nachwuchsleistungszentren) und selbstverständlich auch um das Wohlergehen und somit der psychischen Gesunderhaltung der Athletinnen und Athleten (sofern sich dies im Kompetenzbereich des Sportpsychologen bewegt), denn auch Sportpsychologen arbeiten auf der Basis eines humanistischen Menschenbildes. Selbstverständlich brauchen wir Psychologische Psychotherapeuten und Psychiater, die dann wichtig werden, wenn sich klar diagnostizierte psycho-pathologische Probleme ergeben. Das passiert aber sicher nicht täglich. In meiner, mittlerweile schon 25-jährigen Karriere als praktischer Sportpsychologe kam dies insgesamt zwei Mal vor und ich war mehr als nur froh, dass ich über so etwas wie ein „klinisches Auffangnetz“ verfügte (und immer noch verfüge). Mehr noch: Die institutionalisierte, deutsche Sportpsychologie ist strukturell mittlerweile sehr gut aufgestellt und mit ihren Partnern, die genau dieses klinische Auffangnetz vorhalten („Mental Gestärkt“ sowie die Robert-Enke-Stiftung sowie im schlimmsten Fall der Fälle auch die Abteilung Leistungssport im Nationalen Suizid-Präventionsprogramm, NASPRO) sehr gut vernetzt. In der akademischen Ausbildung zum Sportpsychologen spielen neben den klassischen Inhalten zur Leistungsoptimierung, eben auch Module zum Coaching sowie zur klinischen Psychologie – aber nicht etwa aus dem Grund, dass die Absolventen dann therapieren könnten, jedoch durchaus um eine Idee zu bekommen, was Psychopathologie ist oder wie sich psycho-soziale Probleme zeigen; siehe hierzu das Modulhandbuch des Master-Studiengangs „Angewandte Sportpsychologie“ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Da dieser Studiengang auch adäquat mit der Post-gradualen Ausbildung der ASP gestellt ist, somit als Grundqualifikation gilt, um auch für den DOSB arbeiten zu dürfen, muss ich wohl an dieser Stelle auch nicht die Qualifikation oder das Selbstverständnis aller anderen Kolleginnen und Kollegen, die diesem Qualitätsstandard entsprechen, in Frage stellen.

Fazit

Wir brauchen natürlich Sportpsychologen, im Fußball, und auch im Profibereich. Wir brauchen natürlich auch Psychologische Psychotherapeuten und Psychiater im Sport, wenn wir es mit klinischen Problemen zu tun haben – auch im Fußball. Denn genau hier endet die Kompetenz der meisten Sportpsychologen in der Praxis. Diese „Psychopathologie“ kommt im Sport genauso häufig vor, wie in der nicht leistungssportlich aktiven Normalbevölkerung (zumindest ist mir keine epidemiologische Studie bekannt, die den Leistungssport besonders verdächtig macht, psychisch krank zu werden).

Was wir nicht brauchen, ist eine grundsätzliche „Psycho-Pathologisierung“ des Leistungssports, weil dies, zumindest was die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz betrifft, jeglicher empirischer Evidenz entbehrt. Wir Sportpsychologen haben zwei Jahrzehnte lang dafür gekämpft, um das Stigma los zu werden, dass wir uns womöglich mit Pathologie beschäftigen. Diese Sichtweise war natürlich im Leistungssport höchst problematisch, weil sie aus Sicht von Trainern und Athleten als weniger relevant bewertet wird. Lasst uns bitte nicht, mit solchen Aussagen wie im Spiegel, die Öffentlichkeit wieder verunsichern!

Noch ein Wort zu Timo Werner

Timo Werner hat im Champions-League Spiel gegen Porto, in dessen zeitlichen Zusammenhang der besagte Text veröffentlicht wurde, das einzige Tor für Leipzig geschossen. Ich fürchte nicht, dass er wegen dieses Erfolges und der mitunter dadurch erhaltenen öffentlichen Aufmerksamkeit die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit verleugnet, denn verloren haben die Leipziger trotzdem. Aber ich halte mich da mal lieber mit Spekulationen zurück, denn das wäre eine „Ferndiagnose“ und die würde ich dann ja auch in der Öffentlichkeit äußern. Das verbieten mir meine berufsethischen Richtlinien. So oder so, bin ich mir sicher, dass der Sportpsychologe von RB Leipzig, Sascha Lense, hier einen guten Job machen wird.

 

Literatur:

Institut für Sportwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (2017). Modulhandbuch des Master-Studiengangs „Angewandte Sportpsychologie“. http://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=47029&elem=1948148, Zugriff am 01.11.2017.

Spiegel (2017, online). Warum so viele Fußballstars ihr seelisches Gleichgewicht verlieren. http://www.spiegel.de/spiegel/psychiater-karl-juergen-baer-ueber-depressive-fussballer-a-1175093.html. Zugriff am 06.11.2017.

RB live (2017, online). Psychiater über Timo Werner: Schneller Erfolg kann zu Erschöpfung führen. https://rblive.de/2017/10/31/psychiater-karl-juergen-baer-ueber-timo-werner-schneller-erfolg-kann-zu-erschoepfung-fuehren/. Zugriff am 01.11.2017.

Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (o.J.) asp Statement I, Zum Selbstverständnis der Sportpsychologin/des Sportpsychologen in der Bundesrepublik Deutschland. http://www.asp-sportpsychologie.org, Zugriff am 01.11.2017.

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Prof. Dr. Oliver Stoll
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2 Kommentare

  1. Danke Oliver für die klärenden Worte! Ein sehr guter Beitrag den ich als schweizerische Sportpsychologin (und Psychotherapeutin in Personalinion ?) voll unterstütze.

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