Sie sind es, die einen wichtigen Job für die weltbesten Marathonläufer der Welt machen, und sie sind es eben auch, die damit nicht in der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Sie stehen in der ersten Reihe an der Startlinie, aber sie stehen nicht an oberster Stelle der Top-Verdiener im Profi-Laufbereich. Sie sind es, die „Wanderarbeiter“ des Laufsports, aus Kenia, Äthiopien oder einem anderen Land der sogenannten „Dritten Welt“. Sie kommen nach Europa, um zu laufen und um damit Geld zu verdienen, und somit ihre Familien zu Hause versorgen zu können – die „Pacemaker“ oder liebevoll auch „Hasen“ genannt.
Zum Thema: Über die Bedeutung der Pacemaker für Langstreckenläufer
Der Bedeutung der Pacemaker wurde ich mir schon 2014 bewusst, als ich als sportpsychologischer Berater mit Falk Cierpinski zusammenarbeitete, um ihn in einen Zielzeitbereich um die 2:14 Stunden zu bringen. Wir konnten zwar im Vorfeld einiges im Zusammenhang mit „mentaler Stärke“ vorbereiten (also z.B. einen detaillierten „Renn-Drehbuch“ gekoppelt mit Aufmerksamkeitsregulationstechniken). Aber während des Rennens war Falk auf sich allein gestellt. Zumindest fast, denn bis Kilometer 34 war immer ein anderer Läufer in seiner Nähe – sein Pacemaker, Dickson Kurui. Er gab das abgesprochene Tempo vor, stellte sich in den Wind, wenn er von vorne kam, beobachtete ihn, redete mit ihm, wenn es nötig war. „Dickson als Pacemaker zu haben, war für mich extrem wichtig damals“, sagt Falk Cierpinski im Gespräch. „Mit und hinter ihm zu laufen, war ein Genuss. Er läuft eben sehr flüssig, überhaupt nicht kantig und unruhig.“ Diese Worte zeigen schon, wie speziell diese Beziehung zwischen dem Läufer und seinem Hasen ist.
Nun sitze ich also hier mit den beiden in einem Café in Halle an der Saale und darf mehr erfahren über dieses kaum beleuchtete Themenfeld der Sportwelt. Witzig: Ich hatte Dickson Kurui erst neulich getroffen, als ich in der Dölauer Heide trainierte, und er wie ein geölter Blitz an mir vorbei zog. Als er mich aber erkannte, blieb er mitten im Training stehen und gönnte mir ein gemeinsames „Selfie“. Dabei kam mir die Idee, einmal mehr zu erfahren über diesen Job und den Menschen, der diesen Knochen-Job ausübt. Und vor allen Dingen interessierte mich, ob und wenn ja wie, ein solcher Lauf-Profi mit schwierigen Situationen vor, im und nach einem Rennen umgeht.
Einer von dort, wo die Champions herkommen
Wer ist also dieser Dickson? Er wurde 1989 in der Nähe von Iten in Kenia geboren. Das genaue Datum kennt er nicht. Deswegen steht im Pass immer der 1. Januar. Iten – „Home of the Champions“ – das steht in großen Lettern über dem Lauf-Stadion in diesem Läufer-Mekka. Und eigentlich wollen alle Kinder dorthin. Schon mit sechs Jahren begann er regelmäßig zu laufen und erkannte schnell sein Talent. Aber erst im Jahr 2008, also im Alter von 19 Jahren wurde er von einem „Manager“ gesichtet und im Jahr 2011 nach Europa mitgenommen. Dort begann er mit dem „Pacen“ und zwar beim Halbmarathon in Berlin. Nebenbei übrigens – läuft Dickson auch „auf eigene Rechnung“, also nicht nur als Pacemaker, sondern versucht auch selbst Läufe zu gewinnen. Dann läuft er allerdings keine Marathonläufe, sondern bestenfalls 10 Km-Straßenläufe, bei denen es auch Geld zu gewinnen gibt. Mit einer Zeit um die 28 Minuten auf dieser Distanz hat er hier in Deutschland meistens auch gute Chancen, ganz vorn mitzuspielen. Aber sein Hauptschwerpunkt, wenn er in Deutschland ist, gilt dem „Tempo-Machen“ für andere. Aktuell arbeitet er vornehmlich im Frauenbereich.
Erst kürzlich hat er Renata Augusta aus Portugal zum Sieg beim Hamburg-Marathon geführt. Beim Berliner BIG25 zog er die deutsche Katharina Heinig erfolgreich ins Ziel. Und auch das ist „Strategie“. Natürlich könnte er auch mehr im Männerbereich „pacen“. Das ist für einen Hasen sicherlich mehr Prestige. Aber dort müsste er ans persönliche Limit gehen. Er würde dann, in den acht Wochen pro Jahr, in denen er hier in Deutschland ist, viel zu viele Körner „verschießen“, würde dann eventuell zwei oder drei Rennen als Tempomacher bestreiten können und das wäre es dann auch schon. Im Frauenbereich kann er dann häufiger starten. Man sieht also schon an dieser Diskussion: Tempomachen ist nicht nur „schnell laufen“ können, sondern man braucht dazu auch Intelligenz und Strategie. Und natürlich braucht er auch soziale Unterstützung, wenn er hier ist. Die findet er bei Falk Cierpinski, seinem alten „Kunden“. Mittlerweile verbindet die beiden eine echte Freundschaft und Falk ist ebenso wie ich fasziniert von diesem kenianischen Läufer. Neben dem gegenseitigen besuchen können, kann Falk uns Interessierten auch zeigen, wie Läufer dort aufwachsen, leben, überleben und sich weiterentwickeln können. Zweimal im Jahr bietet er solche Reisen für Interessierte an (#KeniamitFalk).
Für die Frau und den Sohn, das Haus, das Grundstück, die Nahrung und das Schulgeld
Natürlich interessiert mich als erstes die Frage nach dem „Warum“? Warum bist Du Pacemaker und läufst nicht auf „eigene Rechnung“. Die Antwort kommt unvermittelt und mit einem süffisanten Lächeln? „Pacing ist besser als Racing. Ich kann damit einfach mehr verdienen. Immerhin muss ich in Kenia meine Frau und meine Tochter ernähren. Haus, Grundstück, Nahrung, Schulgeld. Das alles möchte bezahlt werden“, sagt er und lächelt weiter. „Wenn ich hier auf eigene Rechnung laufe, komme ich nicht annähernd an das ran, was ich mit dem Tempomachen verdienen kann. Bei einem 10km Straßenlauf, wie z.B. den in Paderborn, trete ich manchmal gegen 10 andere Läufer aus Kenia oder Afrika an und muss mich gegebenenfalls mit 50 Euro zufrieden geben.”
Natürlich frage ich nach, was man so als „Hase“ verdient. Darüber deckt er aber lieber den Mantel des Schweigens. „Hast du schon mal versagt?“, frage ich ihn als nächstes. Jetzt lacht er laut. „Nein, niemals – ich habe meinen Job immer bestens erledigt“. Falk schaut lächelnd zu ihm rüber und merkt an: „Erzähl ihm doch mal von Hamburg im April“. Dickson denkt einen Augenblick nach und fängt an zu berichten: „Ja, das war das Rennen für Renata. Ich hatte aufgrund eines anderen Jobs eine Woche zuvor, bei dem ich mich auch noch bei der Schuhwahl vergriffen hatte, Probleme mit dem Knie. Bei KM 7 bekam ich Schmerzen, die immer schlimmer wurden. Und das wurde dann echt zu einem Kampf für mich. Ich musste wirklich hart kämpfen und habe dann einfach versucht gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Immerhin musste ich ja meinen Job erledigen. Das ging nur, indem ich mir für dieses Rennen Zwischenziele gesetzt habe und dann immer wieder überprüft habe, ob es noch geht. So etwas mache ich sonst nie“.
Ein mulmiges Gefühl und Wissensdurst nach mehr
Da werde ich natürlich neugierig. „Dickson, welche Strategien hast du noch so angewandt?“ frage ich neugierig. „Weißt du“, entgegnet er, „ich denke da an meine Familie. Ich stelle mir die Gesichter meiner Frau und meiner Tochter vor. Ich stelle mir vor, wie stolz auf mich sind, das ich das hier zu Ende bringe und damit eben auch das Geld verdiene, dass wir in Kenia zum Leben brauchen – das treibt mich an, weiter zu machen. Man erwartet von mir, dass ich das mache“. „Und Du hast das dann auch durchgezogen“, sage ich, „ich habe das Rennen ja auch im Fernsehen gesehen, aber ganz ehrlich Dickson, man hat dir nichts angemerkt“. bemerke ich. „Das geht ja auch nicht“, bemerkt er. „Ich muss ja meinen Job erledigen“.
An der Stelle bekomme ich als Sportpsychologe ein ganz mulmiges Gefühl. Und eigentlich möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr tiefer bohren. Ich lege meinen Block zur Seite und wir beginnen ganz einfach und munter über das Laufen, und die Leidenschaft dafür ganz generell zu reden. Ihm macht das sichtlich Spaß und Falk erzählt ein wenig aus seinen Kenia-Erfahrungen. Nach einer Stunde ist dann unser kleines Treffen beendet und ich fahre nach Hause. Mich hat dieses Treffen noch lange beschäftigt. Und mir ist mal wieder bewusst geworden, wie privilegiert wir Europäer eigentlich sind. Ich laufe aus Spaß – aus keinem anderen Grund. Dickson läuft, weil er muss und natürlich auch, weil er es kann. Und weil ansonsten auch keine bessere Chance hat, um seine Familie zu versorgen. Und er verliert bei all diesem Grund sein Lächeln nicht. Er reist für zwei Monate auf einen anderen Kontinent, fernab seiner Familie, lässt sich von seinem Manager mal zu diesem und mal zu einem anderen Rennen als „Hase“ schicken. Bezahlt dann auch noch einen Anteil seines erlaufenen Honorars an seinen Manager und macht auf mich den Eindruck eines zufriedenen Menschen, der einfach in sich ruht, und als könnte es kaum einen besseren Job geben. Mein Fazit aus diesem Gespräch ist: Respekt, und Neugierde. Ich möchte mehr über diese Kultur und ihre Mentalität lernen. Deshalb habe ich auch gleich bei Falk einen der nächsten Reiseplätze gebucht. Ich bin mir sicher, dass dann wieder ein Blog-Beitrag folgt.
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