Die folgende Blogidee kam mir Anfang März. Ich verfolgte ein Junioren-Bundesligaspiel und fühlte mich an das legendäre „Miracle of Istanbul“ zwischen dem FC Liverpool und dem AC Mailand aus dem Jahr 2005 erinnert. Ähnlich diesem denkwürdigen Finale bot das Juniorenspiel über die 90 Minuten Spielzeit die gesamte Bandbreite von emotionalen Höhepunkten und Tiefschlägen. Insbesondere die beiden Trainer stachen von allen Protagonisten besonders heraus und tauchten förmlich in einem Wechselbad der Gefühle zwischen Euphorie und Hilflosigkeit. Womit sich mir die Frage aufdrängt, ob die erlebte Hilflosigkeit wirklich sein muss?
Zum Thema: Was spielt sich in den Köpfen der Spieler ab und wie kann der Trainer Einfluss auf seine Schützlinge nehmen, wenn der Wettkampf zu kippen droht?
Der leistungsorientierte Wettkampfsport lebt von seiner Spannung und Dynamik. Fortwährend entwickeln sich neue unerwartete Situationen, die eine hohe Anpassungsleistung von allen Beteiligten verlangen. Gelingt die flexible Einstellung auf sich laufend ändernde Konstellationen im Wettkampfgeschehen (z.B. Zweikämpfe), kann hieraus ein besonderer Konzentrationszustand (vgl. Grau et al., 1990) erwachsen, der in seiner höchsten Ausprägung bis zur Selbstvergessenheit im Wettkampf führen kann. Umgangssprachlich wird dieser Zustand des „Spielrauschs“ oder „in einen Rausch spielen“ immer dann als Erklärung herangezogen, wenn Spielsportmannschaften außergewöhnliche Leistungen erzielen, wie die famose Aufholjagd der Engländer. Das Team aus Mailand spielte wie aus einem Guss und führte schnell 3:0. Csikszentmihalyi (1982) machten diesen Zustand als einer der Ersten zu seinem Forschungsinteresse und prägt den Begriff „Flow“, welcher sich im sportlichen Kontext einstellt, wenn die gestellten Aufgaben mit der für ihre Bewältigung notwendigen Fertigkeiten übereinstimmend erlebt werden.
Plötzliches Gegentor, Platzverweise, Fehlentscheidungen & Co.
Welche Möglichkeiten stehen Trainer und Spieler zur Verfügung, wenn wie nun einmal wie aus dem Nichts der „Faden reißt“ und der eben noch erlebte Flow verloren geht? Bleiben wir bei dem Champions League Finalspiel der Saison 2004/05. Die Rossoneri bestimmten in der ersten Halbzeit nach Belieben und führten „nur“ mit drei Toren. Die Entscheidung schien bereits mit dem Pausenpfiff gefallen und niemand glaubte an die Wende. Dies blieb auch bis zur 54 Minute so. Mit dem Mut der Verzweiflung gelang es dem damaligen Kapitän der „Reds“ Steve Gerrard, einen langen Ball zu verwerten. Ab diesem Zeitpunkt wendete sich das Blatt um 180°. Es schien so, als hätte Rafael Benìtez in der Kabine die richtigen Worte gefunden. Dieser Anschlusstreffer ist aus sportpsychologischer Perspektive insofern sehr interessant, weil dieser Treffer nicht nur Wirkung auf das englische Team hatte. Ab diesem Zeitpunkt konnte man deutlich erkennen, dass das bis dato dominierende Team aus Mailand völlig den Faden verlor. Mit aller Anstrengung stemmten sich die Italiener gegen die drohende Niederlage, aber sich aus diesem Tief selbst zu befreien gelang ihnen nicht.
Reframing
Hat der Trainer die Möglichkeit, während des Wettkampfes mit seinen Athleten in Kontakt zu treten? Zum Beispiel in der Halbzeitpause?
Aber ja: Ein Trainer kann mit situationsangepasstem Coaching versuchen, den Sportler bei der neuerlichen Konzentration auf das Spielgeschehen zu unterstützen (Syer/Connolly, 1987). Neben einfach und knapp formulierten Anweisungen, ist es besonders wichtig, dass sie die Aufmerksamkeit der Sportler zentrieren oder sogar Überraschungen hervorrufen, so dass die Spieler sie als Signal für das Umschalten von Versagens- auf Erfolgserwartungen deuten kann. Eine Möglichkeit beschreibt Gauron (1984) mit der sogenannten „Technik der Neuausrichtung“ (reframing). Bei dieser Technik nimmt man eine andere Perspektive oder Sichtweise ein und stellt sich seiner vermeintlichen Schwäche oder Schwierigkeit. Fast jeder negative Gedanke kann in ein anderes Licht gerückt oder anders interpretiert werden, so dass er dem Athleten hilft, anstatt ihn zu hindern (Leisinger, 2008). Durch die Neuausrichtung soll nichts heruntergespielt werden. Vielmehr soll der negative Gedanke zum eigenen Vorteil genutzt werden. Wenn ein Athlet beispielsweise den Satz sagt: „Ich hab ein ungutes, komisches Gefühl, wenn ich an die bevorstehende zweite Halbzeit denke“, dann kann er diesen neu ausrichten und z.B. wie folgt umformulieren „Ich bin aufgeregt und fühle mich bereit“. Der positive Selbstgesprächstyp sieht eine Herausforderung in jedem Problem und nicht ein Problem in jeder Herausforderung (Zinsser et al., 2006).
Fazit
Jeder kennt die Situation, ganz gleich ob als Aktiver oder Zuschauer. Eine unvorhersehbare Aktion stellt den bis dahin gelaufenen Verlauf völlig auf den Kopf. Die spielbestimmende Mannschaft verliert den Faden und gibt das Spiel aus der Hand. Viele Sportler und auch Trainer stehen dieser, zugegebenermaßen nicht selten vorkommenden Situation, oftmals hilf- und ratlos gegenüber. Doch dies muss nicht zwingend sein. Die Technik der Neuausrichtung ist nur eine von vielen Möglichkeiten, die die angewandte Sportpsychologie den Beteiligten bietet, um adäquat mit solchen Situationen umzugehen. Ein Sportpsychologe kann dabei helfen, entsprechende Fertigkeiten gemeinsam mit Spielern und/oder Trainern zu entwickeln. Es bleibt reine Spekulation, ob und wie Benìtez in der Halbzeit seine Worte gewählt hat. Was wir jedoch wissen ist, dass es ihm gelang sein Team neu auf die zweite Halbzeit einzustellen und dies mit Erfolg, wie wir in dieser eindrucksvollen Nacht in Istanbul erleben durften.
Literatur:
Grau, U., Möller, J., Rohweder, N. (1990) Erfolgreiche Strategien zur Problemlösung im Sport. Die drei Seiten einer Medaille. Philippka Verlag, Münster.
Gauron, E.F. (1984). Mental training for peak performance. Lansing, NY: Sport Science Associates.
Leisinger, M. (2008) Selbstgesprächsregulation im sportlichen Kontext. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Syer, J., Connolly, C. (1987) Psychotraining für Sportler. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg.
Zinsser, N., Bunker, L. & Williams, J.M. (2006) Cognitive Techniques for improving Performance and Building Confidence. In J. M. Williams, (Ed.). Applied sport psychology: Personal growth to peak performance (5th ed., pp. 349–381). Mountain View, CA: Mayfield
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