Dr. Hanspeter Gubelmann: Liebe auf den ersten Blick?

Am Wochenende gastiert der Skisprung-Weltcup wieder im beschaulichen Engelbergertal. Der „Heimwettkampf“ ist für die Swiss-Ski-Athleten immer ein Anlass mit eigenen Vorzeichen – ganz besonders dieses Jahr: Der alte Titlis-Bakken wurde mit grossem Aufwand modernisiert, der Charakter der Schanze den aktuellen Erfordernissen angepasst. Für jeden Athleten gilt es nun, sich möglichst schnell und im Hinblick auf die am Wochenende stattfindenden Wettkämpfe auch erfolgreich mit der neuen Titlis-Schanze anzufreunden. Wer findet die Liebe auf den ersten Blick? Eine höchst reizvolle Aufgabenstellung auch aus Sicht der Sportpsychologie.

Zum Thema: Weshalb die ersten Versuche auf einer neuen Wettkampfanlage für Sportler besonders wichtig sind

«You never get a second chance to make a first impression». Was im alltäglichen Dating-Verhalten von Mann und Frau als unumstössliches „Gesetz“ gilt, wird in der Psychologie mit dem Primacy-Effekt beschrieben. Dieser „Erster-Effekt“ wird als Gedächtnisphänomen beschrieben, bei dem früher eintretende Informationen besser erinnert werden als später eingehende. Die wissenschaftliche Erklärung basiert auf der zu Beginn erleichterten Speicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis und dem Fehlen anderer Informationen, die mit diesen ersten Informationen interferieren und die Speicherung damit negativ beeinflussen könnten.

So kompliziert diese Theorie klingen mag, so einfach verständlich erscheint sie in ihrer Anwendung an der Schanze. Skisprung-Disziplinenchef Berni Schödler bringt es auf den Punkt: „Fünf wichtige Männer schauen sich das offizielle Training am Freitag sehr genau an.“ Der Experte Schödler meint damit die fünf Punktrichter, die im Rahmen der beiden Trainingssprünge des offiziellen Trainings die Athleten, ihre Sprungstile und insbesondere die Landetechnik der Skispringer unter die Lupe nehmen. „Wenn du zweimal den Sprung einfach „aufgibst und hinkachelst“ und diesen miesen Lande-Eindruck bei diesen Herren hinterlässt, musst du dich als Springer danach nicht wundern, wenn du in der anschliessenden Quali – auch wenn du eine ordentliche Telemark-Landung zeigst – nur eine Note 17.5 erhälst! Die Sprungrichter werden dann wohl denken: Okay nett!  Aber so sicher sieht die Landung halt doch noch nicht gerade aus…“ Die „strengere“ Benotung mit einem entsprechenden Puntktabzug ist dann die Folge jenes Primacy-Effekts, ausgelöst durch den schlechten Eindruck im vorangegangenen Training!

Weltweit höchstes Anlaufgefälle

In thematischer Nähe zum Primacy-Effekt steht ein weiteres Konstrukt der Wahrnehmungs- und Lernpsychologie: das Priming. Unter Priming (engl. to prime = etwas grundieren, bahnen) versteht man die Aktivierung einer bestimmten Kategorie, zum Beispiel „Ausfliegen des Sprungs“, durch einen bestimmten Reiz z.B. „Eindruck der modernen Sprungschanze» oder einem kognitiven Anreiz: „Ich mache mein Ding bis zum Schluss“. Übertragen auf die sich stellende Aufgabe an der Schanze heisst das: Mit welchem mentalen „Set-up“ will ich oben auf dem Balken sitzen, um diesen ersten Sprung auf einer für mich komplett neuen Schanzenanlage erfolgreich zu gestalten? Macht es Sinn, einfach hinzugehen, mal zu schauen wie die Schanze „geht“, um sich dann langsam darauf einrichten zu wollen?

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Champions wie Simon Ammann werden eine andere Strategie wählen, wählen müssen. Aufgrund der limitierten Anzahl an Trainingsversuchen geht es für sie vor allem darum, den erforderlichen Anpassungsprozess zu ökonomisieren und zu optimieren. Dies geschieht zuallererst in einer aktiven Auseinandersetzung mit den veränderten Parametern der Sprungschanze und deren bedeutsamen antizipierten Auswirkungen auf die eigene Bewegungsausführung. Konkret: Der Anlauf und die Anlaufspur in Engelberg sind vollständig verändert und modernen Ansprüchen angepasst worden. Der lange Schanzentisch wurde um 5 Meter verkürzt, das Anlaufgefälle auf das weltweit höchste Mass von 36 Grad erhöht und der Anlauf mit einer ultramodernen Eisspur aufgerüstet. Im Slang der Athleten gesprochen: Aus dem „alten Bock“ von damals ist jetzt „Fast and Furious“ am „Tisch“ angesagt! Im gerade veröffentlichten Buch „Von Null auf Hundert“, verfasst von Szenenkenner Beat Christen, äussert sich Simon Ammann zur besonderen Ausgangslage: „Auf einer neuen oder umgebauten Anlage zu springen, ist immer etwas Aufregendes“, sagt der Doppel-Doppel-Olympiasieger. Die Parameter seien bei allen wieder auf Null gestellt.

Fünf Vorgaben für die Training- und Wettkampfvorbereitung

Aus diesen aktuellen Rahmenbedingungen und gestützt auf Erkenntnisse der sportwissenschaftlichen Forschung, lassen sich in Verbindung mit dem grossen Erfahrungsschatz der Trainer und Athleten mindestens fünf sportpsychologisch akzentuierte Vorgaben für die Training- und Wettkampfvorbereitung ableiten.

  1. Jeder Athlet setzt sich individuell und mit Unterstützung der Trainer aktiv mit der neuen Schanze auseinander. Wenn Gregor Deschwanden in einem Interview von einem Vorteil spricht, dass der von ihm „gehasste“ alte Schanzentisch nicht mehr sei, dann ist das grundsätzlich richtig – aber nur die „halbe Miete“! Entscheidend wird auch für ihn sein, möglich schnell erste positive Eindrücke zu gewinnen!
  2. Die Trainingsdevise für jeden Sprung muss lauten: Optimal vorbereiten und den Sprung bis zum Ende ausreizen! Das impliziert aber auch, dass jeder Sprung wird mit einem Telemark-Aufsprung abgeschlossen werden MUSS!
  3. Bewusstes, fokussiertes Durchspielen der individuellen Sprungvorbereitung. Die Basis-Sprungtechnik-Checkliste ist entscheidend. Ich vertraue meiner Devise, ich mache meinen Sprung…!
  4. Um den Priming-Gedanken von oben aufzunehmen: Affirmationen („ich gehe voll!“) und positive Selbstgespräche („ich liebe diese Herausforderung!“) sind in Engelberg ein Schlüssel zum Erfolg!
  5. Trainer-Feedback: Das Schwergewicht liegt bei den positiven Rückmeldungen. Sehr gute Sprünge werden nicht mit „Das war ein toller Sprung, aber…!“ kommentiert! Sondern: Anlauf, Timing, Übergang in Flugphase waren sehr gut – weiter so!

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Einfach springen

Worauf sich Doppel-Doppel-Olympiasieger Simon Ammann und seine Kollegen in Engelberg einlassen werden, erklärt er im abschliessenden Kapitel des Buchs „Von Null auf Hundert“ (S. 103): Wenn Simon sagt, «man springt einfach», dann steckt hinter dieser Aussage viel mehr. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung kann er zwar schnell den Charakter des Anlaufradius einschätzen, die erste Anfahrt zum Schanzentisch wird aber auch beim Routinier für eine erhöhte Pulsfrequenz sorgen. «Nach der Qualifikation haben alle noch Spass an der neuen Anlage», ist Simon überzeugt und schildert das weitere Vorgehen wie folgt: «Nach dem ersten Wettkampf vom Samstag werden einige schon weniger Freude an der neuen Titlis-Schanze haben, und spätestens am Sonntag nach dem Wettkampf ist die Meinung darüber gemacht, ob die Schanze in Engelberg Aufnahme im ganz individuell zusammengestellten Ranking der Lieblingsanlagen eines jeden einzelnen Athleten finden wird oder nicht.» Ganz sicher mit einem speziellen Gefühl das Tal verlassen wird jener Skispringer, der sich als erster den Schanzenrekord sichert. «Solche Geschichten nehmen in der Karriere eines Skispringers immer einen besonderen Stellenwert ein», weiss Simon Ammann aus eigener Erfahrung.

 

Quellen:

Christen, B. (2016). Von Null auf Hundert. Die Engelberger Skisprung-Geschichte von 1904 bis 2016. Engelberger Dokument Heft 33. Eigenverlag: Kulturkommission Engelberg.

http://die-sportpsychologen.ch/2015/12/30/skispringen/

http://die-sportpsychologen.ch/2015/12/19/dr-hanspeter-gubelmann-vom-ende-eines-automatismus-wie-simon-ammann-nach-neuer-perfektion-sucht/

 

http://die-sportpsychologen.ch/2015/12/30/skispringen/

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