Dr. Hanspeter Gubelmann: Nur Du!

Was macht ein Sportpsychologe in seinen Ferien? Wahrscheinlich ziemlich genau dasselbe, was viele Urlauber tun, wenn sie im Herbst in den Süden verreisen, um nochmals Wärme zu tanken. So auch ich. Ich nutzte die Zeit, um mich viel zu bewegen, Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen, den Kindern beim vielfältigen Sporttreiben zuzuschauen (und sich an ihren Fortschritten zu freuen!) – eben, die Seele auch mal am Strand baumeln zu lassen! Ein Buch wollte ich dabei noch lesen, nämlich Pirmin Loetschers kürzlich erschienenes „Mit dir allein bist du nie allein“.

Zum Thema: Achtsamkeit im Leistungs- und Spitzensport

Der Klappentext des als Bestseller gepriesenen Buches verspricht auch für Sportpsychologen interessante Lektüre: „Mit der ständigen Erreichbarkeit durch Handys und soziale Netzwerke geht vielen Menschen die Achtsamkeit für das eigene Leben verloren. Erst wenn wir fähig sind, mit uns selber allein zu sein, uns selbst auszuhalten, lernen wir vollumfänglich in unserem Umfeld ein ausgeglichenes Leben zu führen.“ Im Sport kennen wir achtsamkeitbasierte Interventionen oder der Theorie der „mindfulness“ nahestehende Ansätze schon seit längerer Zeit. Wie Kollege Dr. René Paasch in seinen Ausführungen zur Verbreitung dieser Methoden feststellt, galten diese Praktiken lange als spirituell und unwissenschaftlich. „Erst durch die Aufnahme achtsamkeitsbasierter Verfahren der klinischen Psychologie und eine stetige Überprüfung ihrer Wirksamkeit hat sich ihr Ruf gewandelt.

Denn die Ergebnisse von Evaluationsstudien zeigen, dass das achtsamkeitsbasierte Training sowohl in klinischen als auch in nicht-klinischen Populationen zur Reduzierung der Symptome von Stress, Angst und Depression führt.“

Dr. René Paasch: Der Trend zur Achtsamkeit

Die inhaltliche Nähe zur Flow-Theorie wird dabei offensichtlich. Der Ausgangspunkt liegt auch hier im Erleben und Handeln im Hier und Jetzt, dem Innehalten und Verweilen im Augenblick. Die Selbstwahrnehmung im Sinne einer empfindsamen Selbstbeobachtung und Reflexion – wie sie z.B. früher auch schon unter dem Begriff der Introspektion bekannt wurde, spielt dabei die zentrale Rolle. Genau an diesem Punkt setzt Loetscher in seinem Buch an und fordert den Leser auf, sich vermehrt auf ein Allein-Sein einzulassen. Seine These (S.19): Nur wer allein sein kann, kann wirklich sein. Spätestens bei seiner Schlussformel war meine Schmerzgrenze erreicht: Allein sein = all-eins-sein – mit allem eins sein (S.21). Ich legte das Buch zur Seite. Zumindest in diesem Moment fühlte ich mich nicht mehr eins mit mir und dem Autor.

Sind Trainer, Eltern und Sportpsychologen besonders gefordert?

Mein psychischer Schmerz schien überwunden, als ich unverhofft und nach Rückkehr aus meinem Urlaub an der Sonne wieder in Kontakt mit diesem Thema kam. Dieses Mal war es die Homepage eines bekannten Laufsport-Anbieters, der mit dem Slogan „Nur Du & dein Weg“ an die Selbstbezogenheit seiner Laufkurse appellierte. Ist diese „neue“ Rückbesinnung auf das „Ich“ in Verbindung mit einer verstärkt geforderten Selbst-Orientierung im Kontext des Leistungs- und Spitzensport etwas, worauf Trainer, Eltern aber auch Sportpsychologen vermehrt schauen sollten? Interessant dabei: ziemlich genau vor zehn Jahren durfte ich eine breit angelegte, repräsentative Studie zum Thema „Umfeldgestaltung im Leistungssport“ durchführen. Hauptbefund dieser Bedürfnisabklärung im Schweizer Spitzensport war – wenig überraschend – ein genereller „Mangel an Zeit und Geld“. Im Zusammenhang mit der hier diskutierten Thematik (nur Du!) ergaben sich zwei interessante Einsichten. Viele der Befragten beklagten das Fehlen von «Freizeit», insbesondere den fehlenden „Raum für selbstbestimmte Freizeitaktivitäten“. Auf der anderen Seite äusserten ganz viele Sportlerinnen und Sportler – Frauen noch deutlich mehr als Männer! – das hohe Bedürfnis einer verstärkten „medialen Selbstdarstellung“, in Verbindung mit der Notwendigkeit eines Internet-Auftritts, welche sie primär in der Lancierung einer eigenen Homepage zu verwirklichen suchten. Die Annahme liegt nahe, dass heute an Stelle dieses Wunsches – alle SportlerInnen dürften heute über eine eigenen Homepage verfügen – die „Pflege“ und Bewirtschaftung der sozialen Netzwerke (Facebook, Twitter, Instagram usw.) getreten sind. An dieser Stelle ist Pirmin Loetscher beizupflichten, wenn er die Frage in den Raum stellt, ob es uns im Rahmen dieser beinahe grenzenlosen Selbstdarstellung und einer ununterbrochenen Kommunikation in den Netzwerken noch ausreichend gelingen kann, selbstbestimmten Freiraum für sich ganz alleine zu finden.

Nach Loetscher führt der „Weg zu dir“ insbesondere über einen bewussten, sinnvollen und eingeschränkteren Gebrauch der sozialen Medien. Einen guten Überblick zu den Chancen und Risiken der medialen Hypervernetzung unserer Jugendlichen bieten die Arbeiten der Medienpsychologin Sarah Genner. Daran angelehnt sind Loetschers Ansätze und Übungen, um „besser mit dir allein sein zu können”:

  • „Wie gut kann ich allein sein“? Loetschers vorgeschlagener Selbsttest hält zwar wissenschaftlichen Kriterien nicht Stand, verweist aber auf die Notwendigkeit einer Selbstanalyse und Selbstreflexion.
  • Der Weg zu grösserer Autonomie und Selbst-Bezogenheit führt u.a. über das Erkennen negativer Muster (Gewohnheit, in Pausen immer das Handy zu betätigen), einer stärkeren Selbst-Autorisierung (z.B. im „Nein-Sagen“), dem Verstärken positiver Muster („Geniessen-Können“), der Entschleunigung (z.B. selektive Email-Beantwortung) und der Betonung von Gemütlichkeit.
  • Die skizzierten Ansätze, vielfach mit persönlichen Beispielen des Autors noch exemplifiziert, sollen helfen, sich allein besser „aushalten“ zu können. Die anzielten positiven „Nebenwirkungen“ sind: Stärkung des Selbstbewusstseins, Erhöhung der Kreativität und eine Mehrung der Selbsterkenntnis.

Offene Fragen

In der Nachbetrachtung und im Kontext von „Mangel an Zeit und Hypervernetzung“ macht die Lektüre von „Mit dir allein bist du nie allein“ durchaus Sinn. Wer sich nicht an Wikipedia-Zitaten stört und auch spirituelle Vorlieben des Autoren verkraften kann, dem sei die Lektüre sogar empfohlen. Gerne würde ich mich mit Herrn Loetscher an einen Tisch setzen und ihm auch die eine oder andere kritische Frage stellen wollen, wie zum Beispiel: Was passiert mit Menschen, die ein Allein-Sein nicht (mehr) aushalten, darauf mit heftigen Angstgefühlen reagieren und sich existenziell bedroht fühlen?

Quellen:

Gubelmann, H.-P. (2006). Analyse zentraler Aspekte der Umfeldgestaltung im Leistungssport: Eine Bedürfnisabklärung im Schweizer Spitzensport. Unveröf. Schlussbericht z.Hd. der ESK.

Loetscher, P. (2016) Mit dir allein bist du nie allein. Warum du dich selbst am meisten brauchst. Altendorf: Giger Verlag.

http://www.die-sportpsychologen.de/2016/09/21/dr-rene-paasch-der-trend-zur-achtsamkeit/

http://www.markusryffels.ch/de/home

http://www.jugendundmedien.ch/fileadmin/user_upload/Broschüren_Flyer/Broschüre_Tipps_Medienkompetenz/Broschüre_Medienkompetenz_D_2015_5_Auflage.pdf

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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