Sandra Stöckli: “Aus der Nicht-Qualifikation für die Spiele in London habe ich meine Lehren gezogen”

Ich treffe Sandra Stöckli wenige Tage vor ihrem Abflug an die Paralympics 2016 in Rio. Die Handbikerin, die seit ihrem Sturz von der Sprossenwand als damals 15-Jährige gelähmt ist, empfängt mich sichtlich gut gelaunt und mit einem für sie typischen Strahlen im Gesicht. „Ich freue mich riesig auf die Spiele und bin froh, wenn es endlich losgeht und die Reise nach Rio beginnt“, schildert die Athletin ihre aktuelle Befindlichkeit. Sodann schiebt sie nach: „Es sollte nun eigentlich alles reisebereit in den Kisten verpackt sein, doch heute morgen musste ich mich wieder etwas ärgern…“ Ein technisches Detail an der Ausrüstung stimmte noch nicht und hätte angepasst werden müssen, was nicht nach ihren Wünschen geschah, entsprechend angespannt wirkt Sandra, wenn sie davon spricht.

Etwas mehr als eine Woche bleibt der Handbikerin nach ihrer Ankunft in Rio Zeit für die Akklimatisation Zeit, bevor es schliesslich, wie sie es ausrückt, ans „Eingemachte geht“. Das Zeitfahren (2 Runden à 10km) findet am Mittwoch, den 14. September statt, das Strassenrennen (3 Runden à 15km) tags darauf. Die Rennen werden in Pontal ausgetragen, etwa 20 Kilometer vom Olympischen Dorf entfernt, wo die Schweizer Delegation logiert.

Auf ihrer speziell für Rio angepassten Homepage gibt sich Sandra Stöckli kämpferisch und zuversichtlich: „Ich bin überzeugt davon, dass ich in Brasilien meine bisher stärksten Wettkämpfe fahren werde. Dass ich eine Medaille im Gepäck habe, wenn ich am 20. September wieder in Zürich lande, kann ich zwar nicht versprechen. Das Ziel sowohl im Zeitfahren wie auch im Strassenrennen ist ein Diplomrang.“ Sie vertraue auf die starken Resultate im Vorfeld der Spiele und ein hervorragendes Team im Rücken was sie zusätzlich ansporne, an den Paralympics über sich hinauszuwachsen, „wenn ich mit dem Schweizer Kreuz auf der Brust über Rios Strassen «fliege»“.

Unser letztes Treffen vor dem Abflug dient auch einem mentalen „check-up“ und der Vertiefung positiver Vorstellungen und Gedanken. Das folgende Interview beinhaltet einige dieser Aspekte, welche dazu beitragen sollen, im entscheidenden Moment – dann wenn’s in Rio zählt – optimal vorbereitet an den Start zu gehen.

Sandra, wissenschaftliche Befunde, wie z.B. den SOR-Berichten von Swiss Olympic zu entnehmen ist, verweisen auf eine notwendige, langfristige mentale Vorbereitung auf Olympische Spiele hin. Was waren „deine mentalen Meilensteine“ on the road to Rio?

Der grosse, vielleicht bedeutendste „Meilenstein“ war der Entscheid vor drei Jahren, von der Leichtathletik in den Radsport und auf das Handbike zu wechseln. Diese wichtige aber auch ebenso schwierige Entscheidung löste eine grosse Motivation aus. Ich wollte alles selber, von Grund auf neu und richtig lernen. Ich bin sehr wissbegierig und es ist schon noch eindrücklich, dass ich sogar als Mechanikerin meines High-Tech-Sportgerätes technische Einstellungen jetzt selbst vornehmen kann. Andererseits wäre ich ohne meine Erfahrungen aus der Zeit in der Leichtathletik nicht dort, wo ich heute leistungsmässig stehe.

Einen weiteren entscheidenden Punkt sehe ich in den Lehren, die ich aus der Nicht-Qualifikation für die Spiele in London gezogen hatte. Ich war immer eine motivierte Athletin, die Gelassenheit aber fehlte sehr oft. Die neue Herausforderung gab mir anfangs mehr Spielraum und zusammen mit dem „Radvirus“ kamen Freude und inneres Feuer zusammen. Schliesslich waren die kontinuierliche Leistungsentwicklung und die tollen Erfolge, die ich gerade auch dieses Jahr feiern durfte, stets positive Verstärker. Ich liebe meine Aufgabe im Handbike, sie liegt mir sehr! Ich spüre die grosse Kraft, die ich auf die Kurbel übertragen kann und wie ich so das Rennen aktiv mitbestimme.

Wie äusserst sich dieses „Mehr an Gelassenheit“

Zuerst einmal erlebe ich mich „durchs Band“, in allen Bereichen gelassener als früher. Das könnte natürlich auch mit meinem Alter und dem grösseren Erfahrungsschatz zusammenhängen. Heute vertraue ich aber viel mehr den Automatismen in der Wettkampfvorbereitung, die mentale Vorbereitung ist vollständig integriert und mein „Rhythmus“ in der Vorbereitung stimmt. In den vergangenen Jahren habe ich jeden Tag gewusst, wofür ich trainiere – ohne dass ich aber immer bewusst und zuviel daran dachte. Das war früher anders… Spitzensport und die spezifische Wettkampfvorbereitung sind zur Selbstverständlichkeit in meinem Alltag geworden.

Was bedeutet für dich die Teilnahme an den Paralympics 2016 in Rio und welche Gedanken gehen dir aktuell durch den Kopf?

Das, was ich in den nächsten Tagen und Wochen erleben darf, bedeutet mir sehr, sehr viel. Ich gehe daran, mir einen grossen Traum zu erfüllen, einen sportlichen Höhenpunkt zu erleben und strebe ein hohes sportliches Ziel an. Ja, ich bin stolz auf mich und mein Team und sehe meinen Einsatz in Rio als Belohnung für die jahrelange harte Arbeit. Die grosse Vorfreude, die ich jetzt tagtäglich spüre, ist sicher auch Ausdruck der Erfüllung meines Olympiatraums.

Aktuell bin ich aber mit handfesten Dingen beschäftigt, z.B. mit dem Packen des Koffers und des ganzen Materials. Mich beschäftigt vor allem der Gedanke, ja nichts zu vergessen! Und habe ich an alles gedacht, was noch hier in der Schweiz erledigt werden muss? Ich bin froh, in Rio genügend Zeit zur unmittelbaren Wettkampfvorbereitung zur Verfügung zu haben, ab und zu kommen mir auch Bilder von der Eröffnungsfeier in den Sinn. Ganz selten sickert etwas Nervosität durch – aber die Vorfreude ist in jeder Situation stärker!

Worauf wirst du in deiner Wettkampfvorbereitung in Rio besonders achten? Was heisst für dich die olympische These: „expect the unexpected“?

Meine Wettkämpfe sind spät und ich werde vor Ort die Gelegenheit nutzen, das Umfeld, die Wettkampfsituation und den Streckenverlauf eingehend kennenzulernen. Ich werde akribisch alle Abläufe vom Wettkampftag durchgehen, meinen Olympiafilm „durchspielen“ und die Zeit auch für letzte, wettkampfspezifische Trainings nutzen. Ebenso wichtig sind aber auch regelmässige Timeouts und ein aktives „mich-Lösen-vom-Olympia-Geschehen“. Dabei will ich bewusst entspannen, den Kopf lüften und genügend Energie tanken in möglichst Olympia-freien Zonen. Am Wettkampftag will ich mit Kopf und Körper zu 100% leistungsfähig sein!

„Expect the unexpected“ bedeutet, dass ich im Rahmen des „Vorstellbaren/ Planbaren“ nichts dem Zufall überlassen will. Es bedeutet aber auch, dass ich – weil ich so gut vorbereitet bin, mich in Bestform fühle – auch allem, was da kommt, gelassen entgegentreten kann. Ich will und werde flexibel bleiben. Geschieht irgendwas Ausserplanmässiges: „Zuerst Ausatmen, dann Einatmen“… Fakten annehmen, dann halt etwas anpassen, vielleicht umdisponieren und dann Plan „B“ mit positivere Energie und Freude umsetzen.

Rio wird für dich ein Erfolg werden wenn

ich den besten Wettkampf meiner Karriere fahre, wenn ich nach der Zieldurchfahrt Freudentränen in den Augen habe, viel Spass und positive Emotionen erlebt habe und dann dieses Ereignis mit meinem Team auch noch etwas Feiern darf!

Sandra bietet mir noch einen Kaffee an und erkundigt sich nach dem Wohlergehen meiner Kinder. Wir plaudern eine Weile und es ist schon spät, als sie mich mit ihrem Lächeln und einem letzten Satz verabschiedet: „Weißt du, ich kann es kaum erwarten und ich freue mich soooo sehr auf Rio!“

Quellen:

Gubelmann, H.-P. (2001). Eine Bestandesaufnahme «mentaler» Schwierigkeiten von Schweizer Athletinnen und Athleten an den Olympischen Spielen 2000 in Sydney. In R.

Seiler, D. Birrer, J. Schmid & S. Valkanover (Hrsg.), Sportpsychologie: Anforderungen, Anwendungen, Auswirkungen. Proceedings asp-Tagung 2001 Magglingen. Köln: bps, S. 90-92.

http://www.sandrastoeckli.ch/de/paralympics-2016.html

http://www.swissparalympic.ch/ueber-uns/stifter/

https://www.paralympic.org

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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