Alex Zanardi gewann an den Paralympics in Rio Gold im Handbike-Zeitfahren und wiederholte damit seinen Triumph von London 2012. Der lebensfrohe Italiener gilt als schillerndes Beispiel all jener „role models“, die in Rio an den Start gehen. Seine Geschichte ist bewegend und einzigartig: vor genau 15 Jahren verlor der ehemalige Formel-1-Pilot bei einem tragischen Crash in der Champ-Car-Serie beide Beine. Sieben Mal wurde er wiederbelebt, acht Notoperationen musste er über sich ergehen lassen. Gestern meinte er im Interview: „Der 15.9.2001 war ein Glückstag – ich habe überlebt und das Ereignis führte mich auf einen neuen, glücklichen Weg.“ Zanardis Beispiel legt den Schluss nahe, dass die erfolgreiche Überwindung eines Schicksalschlags Energie freilegt, die auch paralympische Karrieren befeuern. Wie ist diese Ausgangslage aus sportpsychologischer Sicht zu deuten und welche Konsequenzen lassen sich für die Betreuung von Paralympics-Athleten allenfalls ableiten? Kann sich die angewandte Sportpsychologie auch an spezifischen wissenschaftlichen Befunden orientieren?
Zum Thema: Der Behindertenspitzensport und die Sportpsychologie
Um sich diesem Thema zu nähern, lohnt ein Blick in die jüngste Vergangenheit der paralympischer Bewegung und ihrer Entwicklung. Singer (2009) beschreibt in seinem Infobrief zu Händen des Deutschen Bundestags eine markante Entwicklung, die sich insbesondere auch in einer erhöhten medialen Beachtung der Paralympics manifestiert. „Der Hochleistungssport von Athleten mit Behinderungen hat in den letzten Jahren zunehmend grössere Aufmerksamkeit erfahren. Die Professionalisierung schreitet auch im Behindertenspitzensport erkennbar voran und hat in den letzten Jahren zu einer Leistungsexplosion geführt. Gleichzeitig hat sich das Spektrum der Disziplinen bei den paralympischen Spielen und anderen Wettkämpfen ausgeweitet. Darüber hinaus wird auch der paralympische Sport – als Teil des sportlichen Wettbewerbs zwischen den Nationen – immer deutlicher in den Dienst der nationalen Repräsentation gestellt.“ Der Schluss liegt nahe, dass sich der Spitzensport mit Handicap, gemessen an den Anforderungen auf Olympischen Niveau, immer stärker dem Spitzensport der Non-Handicap-Elite annähert. Andererseits führt die zunehmende Professionalisierung auch zu kontroversen Diskussionen, wie der mehrfache Schweizer Paralympics Medaillengewinner Lukas Christen (2016) zu bedenken gibt. „Wo hört der Mensch auf – und wo fängt die Maschine an?“ Er nennt das Beispiel des Weitspringers, der mit einem Carbon-Fuss weiter springt als einer mit zwei gewöhnlichen Beinen. Entstehen dadurch vergleichbare oder unterschiedliche Betreuungsbedürfnisse auch hinsichtlich sportpsychologischer Unterstützung?
Keim & Weidig (2011) verzeichneten in ihrer Bestandsaufnahme sportpsychologischer Beratung und Betreuung paralympischer Sportler und Trainer einen interessanten Befund. „Das starke Interesse von paralympischen Sportlern und Bundestrainern, psychomotorisches Training systematisch und nachhaltig in den Trainings- und Wettkampfprozess zu integrieren, und die ihm beigemessene Bedeutung für die Leistungsentwicklung spiegeln den grossen Bedarf an sportpsychologischen Angeboten wieder“. Diese Aussage dürfte mehrheitlich auch auf die in der Schweiz herrschende Bedürfnislage zutreffen. Einigermassen unergiebig präsentiert sich die Informationsbasis zu konkreten, im Spitzensport mit Handicap verbreiteten Interventionsformen und Trainingsprogrammen. Aus den Werkstattberichten Deutscher Kolleginnen und Kollegen im Skisport (Engbert et al., 2011), Reiten (Staufenbiel & Bussmann, 2015) und Schwimmen (Brand et al., 2015) lassen sich bedeutsame Themenfelder skizzieren und ein paar Leitideen für die angewandte Betreuungsarbeit ableiten.
Leitideen für die angewandte Betreuungsarbeit
– Grundsätzlich sind die gleichen Themen wie z. B. Psychoregulations- und Konzentrationstraining genauso wichtig wie in der Betreuung nicht behinderter Sportler;
– In der Betreuungsarbeit stehen achtsamkeitsbasierte personenzentrierte Techniken in Verbindung mit Formen des Embodiments vermehrt im Vordergrund;
– Die grössere Heterogenität der Disziplinen und Trainingsgruppen im Behindertenleistungssport macht eine eine insgesamt stärkere Individualisierung der sportpsychologischen Betreuungsinhalte notwendig;
– Der Bedarf an Einzelgesprächen für individuelle Anliegen erscheint erhöht und ist häufig mit einem höheren zeitlichen Aufwand verbunden;
– Der Sportpsychologe muss vermehrt Zeit einplanen, um sich mit den Besonderheiten des Behindertensports und der Trainingsabläufe vertraut zu machen, um nötige Einblicke in den üblichen Trainingsablauf zu bekommen;
– Ein effektives Umfeldmanagement soll dazu dienen, um Überforderungs- und Insuffizienzgefühlen vorzubeugen bzw. den Umgang damit zu erleichtern.
– Athleten mit Handicap trainieren sehr häufig in sehr heterogenen Gruppen zusammen. Teamdynamische Prozesse beeinflussen dabei massgeblich die Trainingsqualität. Hier können Team bildende Maßnahmen helfen, eine positive Gruppendynamik zu fördern sowie eine leistungsfördernde Teamkultur zu entwickeln.
– Darüber hinaus sollte mit den Trainern – wie im übrigen Leistungssport auch – an der Förderung von Kommunikation (z. B. der Optimierung von Feedback und Führungsverhalten) gearbeitet werden.
Was die oben erwähnten Werkstattberichte nicht erwähnen, in der Arbeit mit dem einzelnen Paralympic Athleten aber erfahrbar wird und sich letztlich auch am Beispiel von Handbike-Champion Zanardi manifestiert: Jeder dieser Athleten verkörpert ein persönliches Schicksal – häufig in Verbindung mit einem tragischen Unfallereignis, welches es zuallererst und meist mit psychologischer Unterstützung damals zu überwinden galt. Die dafür notwendigen individuellen Ressourcen, sehr häufig ausgeprägte Willensqualitäten, dürften von erstrangiger Bedeutung sein.
Auf Ressourcen bauen
Ein betreuender Sportpsychologe ist folglich gut beraten, wenn er sich im Rahmen seiner Interventionen primär dieser Ressourcen annimmt und diese im Kontext des psychologischen Anforderungsprofils der entsprechenden Sportart/Disziplin gewichtet. Ein individuelles, ressourcenorientiertes, auf eine systemische Unterstützung ausgerichtetes und mit Elementen der Embodiment-Praxis angereichertes Interventionsprogramm scheint aus dieser Sicht besonders nutzbringend und geeignet zu sein.
Für den interessierten Zuschauer der Paralympics in Rio überrascht Lukas Christen in seinem Aufsatz „Viele siegen, wir alle gewinnen“ mit einer bemerkenswerten Sichtweise: „Bei den Paralympics geht es nicht nur darum, wer siegt. Es geht darum, wer gewinnt. Paralympians sind eben etwas anders. Man nimmt sie, ob man will oder nicht, anders wahr. Man sieht zwar die Leistung, doch man spürt vor allem das Überwinden des Handicaps. Die Paralympics schauen kann deshalb eine Inspiration sein, sich seinem eigenen Handicap zuzuwenden. Hand aufs Herz: Wer ist schon ohne Behinderung? Die Paralympics schauen lohnt sich also, weil man nur gewinnen kann.“
Literatur
Brand, R., Delow, A., & Steven-Vitense, B. (2015). Sportpsychologische Eingangsdiagnostik und Betreuung der Nationalmannschaft Behindertensport Schwimmen. In Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Hrsg.), BISp-Jahrbuch 2014/2015 (S. 223-228). Köln: Sport und Buch Strauß.
Engbert, K., Werts, T. & Beckmann, J. (2011). Sportpsychologische Betreuung des paralympic Skiteam Alpin des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS). Zugriff am 14.09.2016, unter http://www. Bisp-sportpsychologie.de
Keim, J. & Weidig, T. (2010). Sportpsychologische Beratung und Betreuung paralympischer Sportler und Trainer. Leistungssport, 40/5, S.19-22.
Staufenbiel, K. & Bussmann, G. (2015). Sportpsychologische Möglichkeiten im Reitsport. Therapeutisches Reiten 1, S.28-30.
Quellen
http://www.tagesanzeiger.ch/sport/weitere/viele-siegen-wir-alle-gewinnen/story/12868185
https://www.youtube.com/watch?v=y0Tpv5XZgeY
http://www.motorsport-total.com/mehr/news/2016/09/alex-zanardi-holt-gold-in-rio-16091403.html
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