„Eine ziemlich veraltete Sichtweise. Wir müssen ganz einfach mal wegkommen von dieser Einstellung, dass man ein ganzes Turnier oder eine ganze Saison durchgehend mit der gleichen Taktik spielen muss. Diese Zeiten sind schon ziemlich lange vorbei. Die Spieler sind heute ganz anders ausgebildet“. So äußerte sich Oliver Kahn, der EM-Experte des ZDF, zur Kritik seines ARD-Pendants Mehmet Scholl, der nach dem Viertelfinale Deutschland gegen Italien einen emotionalen Angriff auf die Verwissenschaftlichung im Kreise der Nationalmannschaft gestartet hatte. Und tatsächlich: Der Fußball wandelt sich und einer der neuen Trends ist eine ausgeprägte taktische Flexibilität wie sie Vereine wie Juventus Turin, Atlectico Madrid oder auch Bayern München in der vergangenen Champions-League-Saison unter Beweis gestellt haben. Bei der Europameisterschaft hat sich neben Italien eben vor allem die deutsche Mannschaft entsprechend trendig präsentiert, was bei ARD-Experten Scholl, der schon im Vorjahr gegen die Generation der Laptop-Trainer schimpfte, nicht gut ankommt und stattdessen eine klare Strategie und festes Gerüst fordert. Nur, was wird eigentlich von den Spielern verlangt, wenn der Trainer wie auf Knopfdruck die taktische Ausrichtung ändert?
Zum Thema: Aufmerksamkeitsfokussierung und –lenkung im Fußball
Dass der Trainer situativ die Taktik ändert und die Mannschaft darauf reagieren muss, gehört zu den Veränderungen im modernen Fußball. Können wir das kognitiv leisten? Schließlich stehen die Spieler auf dem Feld inmitten eines Sturms an Informationsreizen. Von Kickern auf höchstem Niveau wird entsprechend viel verlangt – aber dennoch lassen sich auch immer wieder einfache technische Fehler wie verpasste Anspiele auf besser positionierte Mitspieler beobachten. Furley, Memmert & Heller machen für dieses Phänomen die „Inattentional Blindness“, die Aufmerksamkeitsfokussierung verantwortlich. Diese beschreibt, dass Personen oder Mannschaften, wenn sie in einer Situation zu sehr auf eine bestimmte Sache fixiert sind oder feste saisonale taktische Ausrichtung fahren, häufig andere Dinge übersehen. Fußballer werden innerhalb eines Spiels regelrecht mit Informationen bombardiert, die auf Grund der limitierten Informationsverarbeitungskapazität des Gehirns nicht vollständig verarbeiten werden können. Nur der Bereich, auf den die Aufmerksamkeit gerade gerichtet ist, wird bewusst aufgenommen und verarbeitet. So kann es passieren, dass auch relevante Aspekte des Spiels oder plötzliche taktische Veränderungen nicht wahrgenommen und umgesetzt werden können. Dies ist dann der Fall, wenn aufmerksamkeitslenkende Instruktionen oder Vorgaben der Trainer vorliegen, wie sie häufig im Training beim Einstudieren von Spielzügen oder taktische Vorgaben gegeben werden. Diese können dazu führen, dass unerwartet und ungeplant frei stehende Mitspieler nicht angespielt oder taktische Veränderungen nicht umgesetzt werden.
Instruktion und Training
Der Wissenstand aus der sportpsychologischen Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsforschung wird genutzt, um Fußballer so zu trainieren, dass sie möglichst schnell lernen, ihre Aufmerksamkeit effizient auf relevante Merkmale (taktische Veränderungen) zu richten. In diesem Zusammenhang spielt Aufmerksamkeit in zweifacher Bedeutung eine wichtige Rolle. Es stellt sich die Frage, wie z.B. der Trainer die Aufmerksamkeit der Trainierenden effektiv auf die relevanten Merkmale lenken kann und wie die Aufmerksamkeitsstrategien in Entscheidungssituationen effektiv trainiert werden können.
Sportpsychologische Studien haben sich in den letzten Jahren mit dem Einfluss unterschiedlicher Instruktionsmöglichkeiten zur Lenkung visueller Aufmerksamkeit auf entscheidungsrelevante Parameter im Sport beschäftigt (z.B. Farrow & Abernethy, 2003; Smeeton, Williams, Hodges & North, 2004). In diesem Zusammenhang scheinen die metakognitiv orientierten Instruktionen im Rahmen taktischer Vermittlungsprozesse eine zentrale Rolle zu spielen. Hänsel (2006) beschreibt die Hauptfunktion der metakognitiv orientierten Instruktion darin, die Aufmerksamkeit des Sportlers zu beeinflussen. Die Aufmerksamkeit sollte die Instruktionen der Fußballer auf die lern- und aufgabenrelevanten Informationen lenken wie bspw. durch die Nutzung computergestützter Taktiktrainings und Aufmerksamkeitslenkung auf individuelle Spielsituationen, wie es etwa das Wiener-Testsystem macht. Ein zu hohes Maß an aufmerksamkeitslenkenden Instruktionen kann zu einer geringeren Aufmerksamkeitsbreite und damit zu schlechteren taktischen und kreativen Leistungen führen. Hingegen könne die Förderung eines breiten Aufmerksamkeitsfokus zu spontanen, kreativen und möglicherweise besseren Lösungshandlungen führen. Videobasierte Trainingsformen werden „im modernen Fußball“ als zusätzliches Trainingsmedium sich durchsetzen, um perzeptuell-kognitive Fähigkeiten unabhängig von motorischem Training effizient zu trainieren (Cañal-Bruland et al., 2007).
Niedeffer (1976) hingegen unterscheidet vier Aufmerksamkeitsausrichtungen (Beckmann & Elbe, 2008). Dabei wird die Ausrichtung der Aufmerksamkeit über zwei Dimensionen gesehen: internal – external und weit – eng, differenziert (u. a. Eberspächer, 2007). Jede Sportart hat im Hinblick auf dieses Modell eine individuelle Anforderung (Beckmann & Elbe, 2008). Dabei wird jede einzelne Aufmerksamkeitsausrichtung zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Wettkampfes benötigt. Stoll und Ziemainz (1999) bieten daher „Aufmerksamkeitsregulations-Drehbücher“ an, bei denen im Detail beschrieben wird, welche Aufmerksamkeitsform in welcher Situation am förderlichsten erscheint.
Aufmerksamkeitsregulations-Drehbücher nach Stoll und Ziemainz (1999) entwerfen“
Abb. 1: Beispielhafte Darstellung der Aufmerksamkeitsausrichtungen im Fußball (in Anlehnung an Christian Müller, Ralf Pocan, Johannes Pöschl, Daniel Stredak, Gregor Nimz, 2012 und Nideffer, 1976 in Beckmann & Elbe, 2008, S. 77)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das die Aufmerksamkeitsregulation und -fokussierung regelmäßig trainiert werden sollte, da hierdurch die sportliche Leistungsfähigkeit und die flexible taktische Ausrichtung erhöht und somit die Erfolgschancen des Fußballers und der Mannschaft gesteigert werden können. Um schließlich die Verbindung der Interventionsmaßnahmen in den Wettkampf zu sichern, sollten zum Beispiel Aufmerksamkeitsregulations-Drehbücher (Stoll & Ziemainz, 1999) oder videobasierte Computerprogramme „Wiener-Testsystem“ genutzt werden.
Literatur
Beckmann, J. & Elbe, A.-M. (2008). Praxis der Sportpsychologie im Wettkampf- und Leistungssport. Balingen: Spitta Verlag.
Cañal-Bruland, R. (2007). Das Hinweisreizparadigma – sportpsychologische Anwendungen im Überblick. Zeitschrift für Sportpsychologie, 14 , 53-66.
Eberspächer, H. (2007). Mentales Training. Das Handbuch für Trainer und Sportler. München: Copress.
Farrow, D. & Abernethy, B. (2003). Do expertise and the degree of perception-action coupling affect natural anticipatory performance? Perception, 32, 1127-1139.
Furley, P., Memmert, D. & Heller, C. (2010). The dark side of visual awareness in sport – Inattentional blindness in a real-world basketball task. Attention, Perception & Psychophysics, 72 (5), 1327-1337.
Smeeton, N. J., Williams, A. M., Hodges, N. J. & North, J. (2004). Developing perceptual skill in tennis through explicit, guided-discovery, and discovery methods. Journal of Sport & Exercise Psychology, 24 (Suppl.), 175.
Hänsel, F. (2006). Feedback und Instruktionen. In M. Tietjens & B. Strauß (Eds.), Handbuch Sportpsychologie (pp. 62-70). Schorndorf: Hofmann.
Stoll, O. & Ziemainz, H. (1999). Mentales Training im Langstreckenlauf . Butzbach: Afra.
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[…] Eine Möglichkeit wäre die Entwicklung eines Aufmerksamkeitsreglations-Drehbuchs (siehe Kollege Dr. Rene Paasch: Taktikanpassungen vorbereiten). In Verbindung mit einer Aktivationsregulation mittels Atemtechnik und einer selbstwertdienlichen […]