Dr. Hanspeter Gubelmann: Wackliges Standbein

Es ist ein sonniger Mittwochmittag im Mai, und ich warte vor dem ETH-Haupteingang auf einen speziellen Gast: Sarah Meier. Die ehemalige Eiskunstlauf-Prinzessin und Europameisterin 2011 in Bern arbeitet heute als Journalistin. Vor genau 15 Jahren suchte sie sportpsychologische Unterstützung. Damals, als Nachwuchshoffnung und der Sportöffentlichkeit noch weitgehend unbekannt, schien ihr die Olympia-Qualifikation zu entgleiten. Die sportpsychologische „Feuerwehrübung“ klappte, sie fand Mut und Überzeugung und schaffte den Sprung an die Spiele 2002 in Salt Lake City.

Zum Thema: Die Schweizer Sportpsychologie zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Wie gaht’s dir“? Mit einem Strahlen im Gesicht tritt mir eine attraktive Businesswoman entgegen. Sarah ist gekommen, um mit mir ein aktuelles Anliegen zu besprechen. Sogleich tauchen wir ein in eine angeregte Diskussion…


Eine derart lange, sportpsychologische Zusammenarbeit, die selbst über das sportliche Karriereende hinaus bestehen bleibt, ist auch heute nicht die Regel. Obwohl gerade im Zusammenhang mit Olympischen Spielen allseits eine systematische, gezielte und langfristige sportpsychologische Unterstützung gefordert wird, fehlen dazu insbesondere in den wenig professionaliserten, kleineren Sportarten die finanziellen Mittel. Dieser Fakt schmerzt, zumal Akzeptanz und Zuspruch seitens der Athleten und Trainer gegenüber der Sportpsychologie in der Schweiz in den vergangenen Jahren weiter zugenommen haben. Junge, gut ausgebildete Sportpsychologinnen, die mit ihren Dienstleitungen ins Berufsfeld der angewandten Sportpsychologie eintreten wollen, werden nicht umhin können, sich ein zweites berufliches Standbein zu entwickeln.

Interessante Beurfsfeldumfrage

Exakt diesen Fragen, nämlich nach der aktuellen Arbeitssituation, beruflichen Perspektiven und der Arbeitszufriedenheit, widmet sich zur Zeit eine breit angelegte Studie des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Bern. Unter der Leitung von Prof. Roland Seiler sucht die Forschungsgruppe nach Erkenntnissen, die auch in die postgraduale Weiterbildung zukünftiger Fachkollegen einfliessen sollen. Eine erste Sichtung zeigt, dass alle 24 Fachtitelträger (FachpsychologInnen für Sportpsychologie FSP/SBAP) neben ihrer angewandten Tätigkeit im Leistungssport weitere Mandate in Lehre und Forschung (z.B. Sportwissenschaft), in anderen psychologischen Berufen (z.B. Psychotherapie) oder weiteren Tätigkeitsfeldern (z.B. Privatwirtschaft) wahrnehmen müssen.

Die Arbeit mit Körper und Kopf

Als Journalistin stehe ich heute auf der anderen Seite und höre die Sportlerinnen von den vielen Emotionen, Erfahrungen und Herausforderungen im Sport berichten“, wirft Sarah in unsere Diskussion ein. In diesem Moment erinnere ich mich an eines ihrer markanten Zitate (Tages-Anzeiger 2015):  „Es hilft mir zu wissen, dass ich unter Druck nicht zusammenbreche. Ich arbeite gut mit Körper und Kopf“. Tatsächlich werde ich oft gefragt, was unsere Dienstleistung letztlich umfasst und in welche Richtung unsere Interventionen zielen. Es sind primär ressourcenorientierte, stark individualisierte Beratungsangebote, die den Athleten befähigen sollen, dann, wenn’s zählt – z.B. im Olympiafinal –, das individuelle Handlungspotential selbständig in eine bestmögliche sportliche Leistung umzusetzen. Wichtig sind die im Sport erlernten mentalen «Skills» zudem dort, wo diese auf andere Lebensbereiche und insbesondere in die nachsportliche Karriere positiven Einfluss gewinnen können. Diese «transferable skills» werden als ein Set von Qualitäten definiert, die in einem anderen Handlungs- oder Arbeitsfeld angewandt werden können, unabhängig davon, wo sie gelernt wurden. Die von Athleten häufig zitierten Skills sind demnach:

1) Die Leistungsfähigkeit unter Druck

2) Die Fähigkeit, Probleme zu lösen

3) Organisationsfähigkeit

4) Die Fähigkeit, Fristen einzuhalten

5) Das Talent, sich selbst Ziele zu setzen und zu erreichen

6) Hingabe und Selbstmotivierung

Wenn man als Sportpsychologe Spitzensportler begleitet, wird deutlich, wie hoch die Identifikation der Personen mit dem Sport und der eigenen sportlichen Leistung ist. Daneben ein normales Leben aufrecht zu erhalten, ist schwierig und mit vielen Entbehrungen verbunden. Spitzensportler zeigen ein überdurchschnittliches Interesse und Engagement, die oben erwähnten Skills zu beherrschen, weil diese direkt mit der eigenen Leistungsfähigkeit verbunden sind und damit einen wichtigen Einfluss auf das Selbstkonzept haben.

Intervision und Supervision haben Entwicklungspotential

Sarah lacht und meint: „Heute war ich wieder Joggen! Zwar bin ich nicht besonders schnell unterwegs, dafür geniesse ich die Bewegung in der Natur sehr.“ Aber wie war das damals mit den Stürzen, den vielen Verletzungen, den grossen physischen Schmerzen und fordernden psychischen Belastungssituationen? Auch Sarah war im Verlaufe ihrer Karriere einst an einem Punkt angelangt, wo chronische Schmerzen eine psychotherapeutische Unterstützung notwendig machten. Damals wie heute bin ich als Sportpsychologe froh, über ein weites und kompetentes berufliches Netzwerk zu verfügen, das mich und mein Angebot im Bedarfsfall stützt. Die vermehrte Pflege dieses beruflichen Netzwerkes, vor allem aber auch die qualitätssichernde Nutzung von Intervision und Supervision, fordern die Autoren der erwähnten Berner Studie zum aktuellen Berufsfeld der Sportpsychologie. Ihnen zufolge ist das Bewusstsein, dass Intervision und Supervision wichtige Elemente zur Erhöhung der Qualität sportpsychologischer Dienstleistungen sind, im Feld der Schweizer Sportpsychologen noch nicht ausreichend entwickelt.

War die heutige Sitzung eine gute, eine erfolgreiche? Was erwartet die Sportlerin von einem Sportpschologen? „Er muss sich in meine Welt hineinversetzen und gut zuhören können. Von ihm erwarte ich, dass wir gemeinsam Handlungsmöglichkeiten diskutieren, damit ich mich für eine mir passende Lösung entscheiden kann“, so die ehemalige Eiskunstläuferin. Sarah verabschiedet sich – sichtlich gut gelaunt. Federnd leicht eilt sie über die ETH-Polyterasse. Eine dynamische, erfolgreiche und selbstbewusste Frau geht ihren Weg – stilsicher auch neben dem Eis!

Dieser und weitere interessante Texte sind in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Psychoscope erschienen.  

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Dr. Hanspeter Gubelmann
Dr. Hanspeter Gubelmannhttp://www.die-sportpsychologen.de/hanspeter-gubelmann/

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