Mit dem Start der Fußball-Europameisterschaft zeigt sich die Sportwelt für vier Wochen von ihrer überaus glanzvollen Seite. Was die 23 auserwählten Fußball-Profis im deutschen Kader erleben und was den Fans und Zuschauern davon nach Hause geliefert wird, hat aber nichts – Nullkommanichts – mit der Realität von Leistungssportlern abseits des Fußballs zu tun. Denn in den allermeisten olympischen Sportarten hat unser deutsches Leistungssportprinzip Schieflage. Daran müssen wir etwas ändern, am besten sofort.
Zum Thema: Leistungssportkarriere – wer tut sich so etwas an?
Die Grundlage für meinen heutigen Blog-Beitrag ist ein Artikel des Kollegen Hans-Ulrich Wilms mit dem Titel „„Arbeitsplatz“ Leistungssport. Eine vielleicht etwas akzentuierte Sichtweise“. Der Beitrag ist erst kürzlich in der Zeitschrift „Psychotherapie im Dialog“ erschienen: Zur Online-Version des Textes. Ich bitte Sie mit Nachdruck, diesen Beitrag einmal im Original zu lesen. Keine Angst – es ist weder eine wissenschaftliche Abhandlung noch so geschrieben. Der Beitrag widmet sich in verständlicher und unterhaltsamer Sprache einer explosiven Thematik, die dringend weiterdiskutiert werden muss.
In diesem Artikel beschäftigt sich Hans-Ullrich Wilms mit dem Anforderungsprofil eines Leistungssportlers bzw. einer Leistungssportlerin in ihrer/seiner Karriereentwicklung. Er steigt mit der Frage ein: „Haben Sie sich je Gedanken darüber gemacht, wie wohl die Arbeitsrealität eines Leistungssportlers aussehen mag?” Daraufhin werden die strukturellen Rahmenbedingungen beschrieben, insbesondere die hohe mentale und physische Belastung, welche die Athleten auf eine harte Probe stellt. In dieser Illustration wurde bewusst auf jene Sportarten fokussiert, die nicht die mediale Präsenz besitzen wie etwa Profifußball, Tennis oder Golf. Es geht also um solche Sportarten, bei denen eine finanzielle Absicherung der meisten Sportler nicht in hinreichendem Umfang gewährleistet ist.
Es müssen Veränderungen her
Junge Athletinnen und Athleten gehen im Rahmen ihrer Leistungssportkarrieren große Opfer ein. Neben dem zeitaufwendigen, täglichen Training, steht die schulische Entwicklung im Fokus. Wettkämpfe an den Wochenenden setzen die Sportlerinnen und Sportler zusätzlich unter Druck. Eine weitestgehend „normale“ Persönlichkeitsentwicklung kann somit in den wenigsten Fällen erfolgreich abgeschlossen werden. Junge Athletinnen und Athleten verbringen viel Zeit in weitestgehend hierarchisch organisierten Systemen, erleben eher selten Autonomie und oftmals leben sie über weite Strecken in Sportinternaten oder an Sportschulen, fernab von Familie und Freunden. Hans-Ulrich Wilms stellt mit Recht die Hypothese auf, dass Personen, die solche Entwicklungsverläufe erleben und über Jahre dabei bleiben, eine besonders „akzentuierte Persönlichkeit“ haben müssen, um all diese Konsequenzen auf sich zu nehmen.
Mir stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit und wie gut unser Leistungssportsystem – mal abgesehen vom „Klassenprimus Fußball“ – auf diese Problematik vorbereitet ist? Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat in den letzten Jahren Standards vorgegeben, wie ihre Nachwuchsleistungszentren strukturell und personell ausgestattet sein müssen. Nicht wenige Sportpsychologinnen und Sportpsychologen haben in den letzten Jahren hier eine Beschäftigung gefunden. Aber wie wird mit dieser Problematik in anderen Sportarten umgegangen, die diese mediale Aufmerksamkeit bestenfalls einmal alle vier Jahre, nämlich zu den Olympischen Spielen erhalten? Sicher – es gibt ein Olympiastützpunktsystem, dass zumindest über einen „Laufbahnberater“ verfügen sollte. Aber hat ein Laufbahnberater nicht andere Aufgaben, als die individuelle Betreuung in der Persönlichkeitsentwicklung der dort betreuten Athletinnen und Athleten sicherzustellen? Und sollte genau dies erwartet werden, wären die Olympiastützpunkte dann nicht gnadenlos überfordert? Inwieweit sollten hier Lehrer und Lehrerinnen an den sportbezogenen Bildungseinrichtungen (Sportschulen) eingebunden werden? In welchem Ausmaß sollten hier Vereine oder Sportspitzenverbände von Sportarten mit einem „Profi-System“, ähnlich dem Fußball mit in die Verantwortung genommen werden (z.B. in den Sportarten Eishockey oder Handball)? Welche Möglichkeiten hätten universitäre Partner im Aufbau und der Entwicklung eines solchen „Unterstützersystems“? Die Etablierung eines „runden Tisches“, mit Vertretern aus den o.g. Bereichen erscheint mir dringend angeraten, damit mögliche politische Entscheidungen bald auf den Weg gebracht werden können.
Grundlegende Literatur zum Thema:
Alfermann, D. (2010). Karriereentwicklung, Karriereübergänge und Karrierebeendigung im Leistungssport. In O. Stoll, I. Pfeffer & D. Alfermann. Lehrbuch Sportpsychologie. Bern: Huber.
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