Am Sonntagnachmittag (ab 17.15 Uhr, live in der ARD) steht die deutsche Nationalmannschaft im Finale der Handball-Europameisterschaft. Dass das jüngste Team des Turniers den Sprung ins Endspiel gegen Spanien geschafft hat, wird – unabhängig vom Ausgang der Partie – als eine der ganz großen Sensationen des Sportjahres in Erinnerung bleiben. Aber wie war das möglich? Trotz der vielen Verletzungen, der Ausfälle einiger Stammkräfte noch während des Turniers und des eigentlich erst in den Anfängen begriffenen Umbaus der Herren-Nationalteams? Die Antwort liefern junge unbekümmerte “Bad Boys”, wie sie sich selbst bezeichnen, und ein äußerst besonnener Trainer…
Zum Thema: Außenseiter im Vorteil – wie junge Teams über sich hinaus wachsen können
Junge Spieler brauchen Vertrauen, um ihr Potenzial auszuschöpfen und ihr Leistungsoptimum zu erreichen. Dieses Vertrauen bringt Trainer Dagur Sigurdsson seinen nominierten Spielern entgegen, indem er jeden spielen lässt. Das ist ein Erfolgsrezept, weil jeder junge Spieler auch spielen will – niemand will einfach nur dabei gewesen sein. Außerdem möchten junge Spieler ihre Rolle und ihre Aufgabe im Team kennen, dadurch sind sie sich ihrer Bedeutung im Team bewusst und bereit, sich für einander einzusetzen. Durch die vielen Ausfälle weiß jeder Spieler, dass er wertvoll für die Mannschaft und das Team ist, so dass das Selbstwertgefühl der Spieler wächst. Durch die wenigen „Stars” im Team setzt sich jeder Spieler voll für den anderen ein, an soziales Faulenzen ist nicht zu denken. Und noch etwas ist vorteilhaft für den Kopf der Spieler: Keiner schaut zum anderen auf, wie es vielleicht bei Starspielern sonst mal der Fall sein würde… Junge Spieler unterschätzen sich oft und mindern ihre eigenen Fähigkeiten, wenn Spieler mit großem Namen neben ihnen auf dem Spielfeld stehen. Oft wird unterbewusst Verantwortung abgegeben. In der jetzigen Konstellation der Nationalmannschaft ist es jedoch kaum möglich.
Die Spieler sehen eine Chance, eine Herausforderung in den Spielen, so dass sie Lust auf mehr bekommen. Angst und Zweifel brauchen sie nicht mehr zu haben, da sie bereits mit dem Einzug ins Viertelfinale erreicht haben, was keiner von ihnen erwartet hatte. Der Druck von außen ist gering. Die Spieler werden bereits jetzt gefeiert und ermutigt, weiter alles zu geben. Dadurch kann die Willenskraft weiter gesteigert werden und die Spieler reißen sich gegenseitig mit, weil sie noch mehr zusammen erreichen wollen.
Erfolge machen sie noch stärker
Die Erfolge machen sie noch stärker, da sie zusammen wachsen und das gemeinsame Ziel, den Titel zu holen, forcieren können. Jeder der Spieler weiß sich im Team einzubringen und genau das ist die Stärke: das Team.
Wie werden sich die Spieler nun psychisch auf das abermalige Duell gegen die Spanier vorbereiten? Die Begegnung gegen die favorisierten Iberer ging in der Gruppenphase knapp verloren. Der Vorteil ist aber, dass die Spanier bereits als Favorit in das Turnier starteten. Das deutsche Team kann befreit aufspielen und das spannende dabei – sie kennen den Gegner bereits und können das erste Duell genau analysieren. Trainer und Spieler können sich demnach vorbereiten und den individuell womöglich überlegenen Gegner mit taktischen Mitteln überraschen. Taktische Umstellung hat Trainer Sigurdsson bereits im Spiel gegen Schweden genutzt und die Mannschaft hat es bestens umgesetzt. Durch die Vorbereitung auf die Finalpartie können die Spieler erneut Sicherheit gewinnen und sich ihr so genanntes Drehbuch schreiben.
Ein Drehbuch ist hilfreich
Für den Kopf ist ein Drehbuch sehr hilfreich. Zudem würde ich als Sportpsychologe das Team an die erzielten Erfolge und die Entwicklung der Mannschaft im Turnierverlauf erinnern, dadurch steigert sich erneut das Selbstvertrauen der Spieler. Besonders Bilder, Videos und die richtige Musik helfen Sportlern, ihre Emotionen und ihre Leistungsbereitschaft zu verstärken. Ein weiterer wichtiger Punkt im Umgang mit dem Druck des Finalspiels ist die Betrachtung der Situation als Herausforderung (siehe auch: Christian Reinhardt: Versagen unter Druck; Benjamin Göller: Ales oder nichts; Elvina Abullaeva: Die Vorbereitung auf ein Finale). Sportler gewinnen Lockerheit durch ihre eigene Freude und Bereitschaft etwas für ihre Leidenschaft zu tun.
Es steht fest, dass sich solch eine Partie auch im Kopf entscheidet. Hier ist es wichtig, sich auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können und sich auf diese zu konzentrieren. Eine besondere Qualität bringt zweifelsfrei der isländische Coach des deutschen Teams mit: Wie Sigurdsson im Turnierverlauf Auszeiten in Bezug auf das Timing und auch inhaltlich genutzt hat, war sensationell. Der Weltklassetrainer beschränkt seine Ansprachen dabei auf sieben Informationen, die er in aller Ruhe und Besonnenheit – egal wie es auf der Anzeigentafel und um das tapfere Team steht – platziert.
Ein Blick in die deutsche Handballgeschichte
Die Geschichte des Außenseiters erinnert an die Weltmeisterschaft 1978, bei der „Außenseiter“ „Jimmy“ Waltke, in der 39. Spielminute im Finalspiel eingewechselt wird und zugleich einen Treffer zur Zwei-Tore-Führung der Deutschen Mannschaft gegen die UdSSR erzielt. Jimmy Waltke, damals erst 24 Jahre alt, hat bis zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Spiel in dem Turnier für die Nationalmannschaft bestritten.
Doch der damalige Trainer Vlado Stenzel hat Jimmy vor dem Spiel bestens auf die Situation vorbereitet und zwei entscheidende Dinge getan: Zum einen hat er Jimmy Vertrauen geschenkt, indem er ihm bereits zwei Tage zuvor einen Stammplatz für die kommende Spielzeit zusicherte und ihn dann aber bereits im Endspiel einsetzte. Und noch wichtiger: Stenzel hat den Druck aus der Situation für Jimmy Waltke genommen, da dieser das Spiel nicht als seine „Lebenschance“ gesehen hat. Im aktuellen deutschen Kader finden sich auf den ersten Blick viele dieser Waltkes…
Quellen:
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