Der Start zur Skiflugweltmeisterschaften wird überschattet durch den schweren Unfall des österreichischen Skispringens Lukas Müller. Der ehemalige Junioren-Weltmeister kam im Rahmen des Vorfliegens der Vorspringer – so wird die spezielle Vorbereitung dieser „Testpiloten“ im Fachjargon genannt – zu Fall und zog sich gemäss ersten Medienberichten schwere Rückenverletzungen zu. Unweigerlich werden wir Schweizer an den tragischen Unfall von Daniel Albrecht 2009 in Kitzbühl erinnert. Das schwere Schicksal eines einzelnen Athleten wird in einem solchen Moment zum übergreifenden und auch medialen Hauptereignis, insbesondere wenn es sich im Umfeld von Titelkämpfen oder bedeutsamen Sportevents ereignet. Besonders betroffen davon sind die Athleten und Trainer, die sich einer zusätzlichen mentalen Herausforderung (vgl. Kleinert, 2003) stellen müssen. Was ist in einer solchen Situation aus sportpsychologischer Sicht zu tun?
Zum Thema: Das Risiko springt mit!
Der österreichische Trainer Heinz Kuttin (zvg berkutschi.com)
ÖSV-Cheftrainer Heinz Kuttin hatte auf der Anreise zur Skiflug-WM vom Unfall seines früheren Schützlings Müller erfahren (Salzburger Nachrichten, 14.1.2016) und gab in einem ersten Interview seiner grossen Betroffenheit Ausdruck. “Der Schock sitzt tief, da ist es schwierig, den Fokus auf den Sport zu richten”. Der verheerende Sturz „macht einen als Trainer nachdenklich“. Zum spezifischen Umgang mit der Situation meint er: „Der Sport geht weiter”. Er sei in Gedanken bei Müller und hoffe, dass alles gut ausgehe. “Aber wir müssen uns nun vom Kopf her zu hundert Prozent konzentrieren.” Seinen Athleten will der Coach offen Informationen geben und das Thema klar ansprechen. Aus diesen pointierten und ebenso fachkundigen Aussagen Kuttins lassen sich vier Hauptanliegen im Umgang mit Schicksalschlägen – nicht nur im Sport – ableiten.
Trainerpersönlichkeit:
Ein Nationaltrainer ist ein professioneller Mehrkämpfer mit einem breiten Repertoire an Fähigkeiten und Fertigkeiten, die weit über das sporttechnische Wissen hinausgehen. In einer akuten Krisensituation, wie sie sich anlässlich der Skiflug-WM präsentiert, sind insbesondere seine Trainerpersönlichkeit im Allgemeinen und sein Einfühlungsvermögen in der Interaktion mit dem Team und den einzelnen Athleten gefordert. Eigene Betroffenheit und Mitempfinden gehören ebenso dazu wie eine aktiv-unterstützende Haltung in der Teambetreuung. Welche Konsequenzen ein egozentrisch-oberflächlicher Umgang mit einem tragischen Unfall haben kann, zeigte sich vor vielen Jahren am Beispiel von Silvano Beltrametti. „Unsere Abfahrer sind harte Jungs, wir brauchen keine psychologische Unterstützung“, war da aus Trainersicht zu hören – worauf sich einige Athleten selbständig mit Sportpsychologen in Kontakt setzten. Angemessener wäre, wenn sich Trainer auf einen in Notfallpsychologie geschulten Sportpsychologen stützen und sich – im Fall eigener Verunsicherung – mit diesem über das weitere Vorgehen (z.B. Debriefing, vgl. Hogg & Kellmann, 2002) absprechen könnten.
Das Thema ansprechen:
Die aktuelle Situation auch im Bezug auf die Skiflug-Weltmeisterschaften macht es erforderlich, dass der Trainer das Ereignis im gesamten Team, im Beisein aller Athleten und den involvierten Betreuern, anspricht und alle zu Wort kommen lässt. In diesem „geschützten Rahmen“ soll den Teammitgliedern die Möglichkeit geboten sein, sich auf ganz persönliche Art und Weise auszudrücken, sich gegenseitig Unterstützung zuzusprechen und ihrer emotionalen Betroffenheit Ausdruck zu geben. Diese Vorgehensweise dient nicht nur dem psychohygienischen Umgang mit dem Unfall, sondern gibt dem Trainer insbesondere wichtige Rückmeldungen zum Ausmass und Stärke der Betroffenheit. Schliesslich wird es für das Team wichtig sein, eine gemeinsame Vorgehensweise zu thematisieren, insbesondere auch was den Umgang mit den Medien und persönliche Stellungnahmen in der Öffentlichkeit betreffen.
Aktueller Beitrag von Radio Central mit O-Ton von Dr. Hanspeter Gubelmann:
Die Athleten in ihrem persönlichen Umgang stützen:
So wichtig der gemeinsame Umgang mit dem Ereignis im Team ist, entscheidend bleibt die individuelle Auseinandersetzung des einzelnen Athleten mit sich und der Aufgabe, um seine Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die Weltmeisterschaften zu optimieren. Dabei gilt, was sich bereits in Kuttins Aussage findet: 100% Konzentration! Jeder Skispringer kennt das Gefühl des Stürzens und einige von ihnen haben sich dabei, meist ziemlich harmlos, verletzt. Die mentale Herausforderung liegt darin, dem eigenen Sturzempfinden aus der Vergangenheit nicht zu viel Raum zu bieten und stattdessen die eigene Kontrollüberzeugung zu stärken, sich vermehrt an Erfolgserlebnissen, z.B. an vergangenen Skiflug-Weltmeisterschaften, gedanklich zu orientieren und sich primär auf die eigenen Handlungsabläufe zu fokussieren. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Phase der unmittelbaren Sprungvorbereitung. Diese muss automatisiert und fokussiert ablaufen können. Als „delikat“ lässt sich die Ausgangslage von Simon Ammann beschreiben. Zusätzlich zur Landethematik und seiner auch öffentlich geäusserten Sprungangst beim ersten Versuch auf einer neuen Schanze, wird er sich zusätzlichen, auch medialen Fragestellungen, widmen müssen. Hilfreich sind ihm dabei Ressourcen wie seine Erfahrungen als ehemaliger Skiflugweltmeister, seine jüngsten Leistungsfortschritte auf der Schanze, hauptsächlich aber seine aussergewöhnliche Fähigkeit, sich auf den entscheidenden Moment – dann wenn’s zählt“ – zu fokussieren!
Langfristige Auseinandersetzung:
Skispringerinnen und Skispringer lernen früh in ihrer Karriere, wie mit Stürzen umzugehen ist: technisch, im Sinne eines „richtig“ Stürzens und mental bezüglich gedanklicher und emotionaler Verarbeitung des Sturzerlebens. Beunruhigend ist, dass die Zahl schwerwiegender Stürze zugenommen hat. Thomas Morgenstern gab aufgrund einer Sturz-Serie seinen Rücktritt bekannt, Nick Fairall stürzte letztes Jahr in Bischofshofen schwer und ist seither auf den Rollstuhl angewiesen, Simon Ammann und jetzt Lukas Müller sind die jüngsten „Sturzopfer“. Logische Konsequenz muss sein, dass dem Faktor „Sicherheit“ auch aus sportpsychologischer Sicht vermehrt Bedeutung beigemessen wird. Dies hat in zweierlei Hinsicht zu erfolgen: präventiv in Richtung Stärkung der mentalen Handlungskompetenz (insbesondere der Selbstwirksamkeitsüberzeugung) und reparativ in der mentalen Rehabilitation von Sportverletzungen. Letztlich muss auch der möglichen Tatsache sportpsychologisch begegnet werden, dass ein schwerwiegender Sturz zum Karriereende führen kann. In meiner Praxis als Sportpsychologe stelle ich dem Athleten einmal im Jahr die grundsätzliche Frage: Was würdest du tun, wenn deine Karriere heute Abend zu Ende wäre. Denn: das Risiko springt immer mit!
Quellen:
Hogg, J.M. & Kellmann, M. (2002). Debriefing im Leistungssport. Psychologie und Sport, 9, 90-96.
Kleinert, J. (2003). Erfolgreich aus der sportlichen Krise. BLV: München.
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