Die 64. Austragung der Vierschanzentournee hat mit einem sportlich hochstehenden letzten Wettkampf in Bischofshofen und einem hochverdienten Gesamtsieg des Slowenen Peter Prevc einen würdigen Abschluss gefunden. Als Gewinner darf sich aber auch Simon Ammann fühlen – er hat seine Angst besiegt und am Ort seines schlimmen Sturzes vor Jahresfrist mit einem 8. Rang seinen besten Wettkampf der laufenden Saison bestritten. Dieses sportpsychologische Lehrstück ist deshalb besonders wertvoll, weil es bedeutsame Hinweise für einen behutsamen Umgang mit dem Gefühl der Angst liefert – nicht nur im Sport und für die Trainerarbeit!
Zum Thema: Emotionen und Umgang mit Angst im Spitzensport
Die Ausgangslage zur diesjährigen Springertournee präsentierte sich für den Ausnahmekönner aus dem Toggenburg delikat: Mittelmässige Weltcupresultate im Vorfeld der Tournee, ein grundsätzlich „funktionierender Sprung mit ungenügender Landetechnik“ und dem Ausblick, an jenen Ort des Geschehens zurückzukehren, wo letztes Jahr ein schlimmer Sturz und eine schwere Gehirnerschütterung eine schwerwiegende Zäsur in der Karriere des Skispringers bewirkten. War zunächst das Umlernen in der Landtechnik im Fokus des (öffentlichen) Interesses, folgte spätestens ab dem resultatmässigen Rückschlag im 3. Springen in Innsbruck ein Themenwechsel: fortan dominierte seine „Flugangst“ die Schlagzeilen. Am Anfang dieser medialen Diskussion stand Simon Ammanns Aussage, wonach er seit dem Sturz vor Jahresfrist auf jeder Schanze, auf welcher er seither gesprungen sei, beim ersten Sprung Angstgefühle gespürt habe. Wie würde ein Draufgänger im Stile Ammanns, plötzlich geplagt von Ängsten, auf Topniveau weiterspringen können? Entsprechend vielfältig und teilweise kontrovers fielen die Interpretationen der Journalisten aus. Der BLICK riet zur sofortigen Heimreise, im Tagesanzeiger war von „Angst, die beflügeln kann“ die Rede. Wo liegen nun die sportpsychologischen Trouvaillen, die uns Ammanns Entwicklung seit Bischofshofen 2015 offenlegt? Oder was kann der interessierte Trainer im Umgang mit Angstgefühlen seiner Athletin lernen?
Angst als grundlegende Emotion: Sechs Emotionen sind allen Menschen gemeinsam: Angst, Wut, Trauer, Freude, Überraschung und Ekel. Im Sport erfüllen diese Basisemotionen wichtige Funktionen (vgl. Birrer et al. 2010). Angst dient auch dem Sportler primär als Schutz vor Gefahr und Schaden. Erlebt er eine Stressreaktion, bewertet er die Situation automatisch. Schätzt sich Simon Ammann „schwächer“ ein als das stressauslösende Objekt – z.B. im Hinblick auf den ersten Sprung – resultiert daraus ein Gefühl der Angst. Obwohl negative Emotionen mit suboptimalen Wettkampfleistungen im Sport in Verbindung gebracht werden, sind sie unerlässlich für eine positive längerfristige Leistungsentwicklung. Der aktuelle PIXAR-Kinofilm «Alles steht Kopf» verdeutlicht dies in wunderbarer Art und Weise – quasi ein unerlässlicher Kinobesuch für jeden Nachwuchstrainer!
Simon Ammann in Bischofshofen 2016 (Quelle: berkutschi.com)
Angst als Teil der Verunsicherung nach einem Unfall: Eine schwere Gehirnerschütterung, wie alle anderen schwerwiegenden Sportverletzungen, bergen immer ein grosses Mass an Ungewissheit in sich. Diese Unsicherheit dürfte der entscheidende Faktor für die Entstehung von Ängsten sein. Dem Umgang mit dieser Unsicherheit, insbesondere in der Zusammenarbeit mit dem Trainer oder den engsten Vertrauten, muss deshalb höchste Priorität eingeräumt werden. Simon Ammann war gut beraten, einen behutsamen Umgang zu finden, indem er seine Gefühle lange Zeit für sich behielt. Um herauszufinden, welche positiven und negativen Auswirkungen Erregung und Angstgefühle haben, muss der Athlet lernen, in sich hineinzuhorchen (vgl. Kleinert, 2003). Die psychologische Bezeichnung hierfür ist die Introspektion; Umsetzungsform in der angewandten Sportpsychologie ist häufig das persönliche Tagebuch!
Angst, ein häufiger Begleiter im Spitzensport: Skispringer gelten gemeinhin als Draufgänger, „wilde Hunde“ eben, die sich furchtlos über die grössten Bakken dieser Welt stürzen. Spätestens seit dem Angst bedingten Rücktritt des österreichischen Skisprungstars Thomas Morgenstern (vgl. Morgenstern, 2015) – quasi Ammanns Ebenbild – hat sich der Ton in der Diskussion gewandelt. Offen spricht Morgenstern aus, wie sehr ihm die schlimmen Stürze letztlich zusetzten und ihm das Vertrauen und die Kontrollüberzeugung raubten. Andere Beispiele, wie der Abfahrer Marco Büchel, der seinem „Höllenritt“ auf der Face de Bellevarde in Val d’Isère mit grossen Angstgefühlen bestritt oder Sarah Meier, die von derartig schlimmer Nervosität sprach, dass sie kurz vor einem wichtigen Wettkampfeinsatz „am Liebsten gestorben wäre“, zeigen die Notwendigkeit eines achtsamen Umgangs mit Angstgefühlen auf. Und: es zählt zu den erforderlichen Fähigkeiten einer Sportpsychologin oder eines Trainers, Athleten in dieser Notsituation adaequat unterstützen und begleiten zu können!
Per Klick zum Web-Special von Servus TV über Thomas Morgenstern (Bildquelle: Servus TV)
Angst und ihre Entstehung: Um das Angsterleben zu beschreiben oder gar zu messen, sind verschiedene Instrumente, meist in Form von Fragebogen, entwickelt worden. Für die Sportpraxis interessant sind die Teilaspekte, die erhoben und mieintander in Verbindung gebracht werden. Beckmann et al. (2009) unterscheiden dabei die „Somatische Angst“. Diese erfasst den Grad der wahrgenommenen, körperlichen Symptome (Zittern, Herzrasen usw.). Die „Kognitive Angst“ beschreibt, inwieweit der bevorstehende Wettkampf Selbstzweifel oder spezifische Sorgen im Sportler hervorruft. „Zuversicht“ schliesslich ermittelt das Selbstvertrauen des Sportlers in Hinblick auf den Verlauf und den Ausgang des bevorstehenden Wettkampfes. Die Autoren fanden heraus, dass am Tag vor dem Wettkampf die kognitive Angst anstieg und am Wettkampftag die somatische Angst ihren Höhepunkt erreichte. Simon Ammann tankte mit einem erfolgreichen Qualifikationssprung (mit reduziertem Anlauf) offensichtlich viel Zuversicht für den Wettkampftag, an welchem er in der Lage war, körperlichen Stresssymptomen adäquat zu begegnen. Hieraus lässt sich ableiten, dass die unmittelbare, erfolgreiche Wettkampfvorbereitung meist 24 Stunden vor dem eigentlichen Wettkampf startet!
Umgang mit Angstgefühlen als langfristiger Prozess: Tagesanzeiger-Journalist Christian Brüngger (2016) ging in seinem Beitrag kürzlich der Frage nach, wie Simon Ammann seine Angst in den Griff bekommen kann. Er zitiert Skisprung-Legende Toni Innauer, der in der «Zeit» zum Thema meinte: «Man kann die Angst besiegen, aber nur schrittweise und mit wachsender Bewältigungsüberzeugung. Man muss sich dafür immer neue, kleine Ziele setzen.» Damit folgt Innauer einem konstruktiv-kognitivistischen Ansatz, der letztlich auf Selbstkontrolle und -regulation von emotionalen Zuständen abzielt. Einem anderen Weg würden achtsamkeitsbasierte Interventionsformen folgen. Skispringer können darin angeleitet werden, Angst zuzulassen, ohne dabei in die Gefahr eines Kontrollverlusts zu geraten. Schliesslich ist dieses Gefühl auch für einen Skispringer „normal“. Entscheidend dabei – auch für die Unterstützung durch den Trainer: die Zuversicht, die Hoffnung auf Erfolg müssen hoch bleiben! Athleten sprechen vom Gefühl einer inneren Gelassenheit, trotz oftmals höchster körperlicher Anspannung!
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In einem abschliessenden Interview gab Ammann in Bischofshofen zu Protokoll: „Es ist ein richtig gutes Erlebnis draus geworden.“ Er hat dafür auch aus Sicht der Sportpsychologie viel und sehr lohnend investiert!
Quellen und Verweise:
Beckmann, J., Ehrlenspiel, F., Schönfelder, M., Strahler, K. & Weil, J. (2009). Neuroendokrine Facetten der Wettkampfangst. BISP-Jahrbuch, S. 299-306.
Birrer, D., Ruchti, E. & Morgan, G. (2010). Psyche – Theoretische Grundlagen und praktische Beispiele. BASPO: Magglingen.
Kleinert, J. (2003). Erfolgreich aus der sportlichen Krise. BLV: München.
Morgenstern, T. (2015). Über meinen Schatten springen: Eine Reise zu mir selbst. Ecowin-Verlag: Wals bei Salzburg.
http://www.srf.ch/sport/mehr-sport/skispringen/thomas-morgenstern-tritt-ab
http://www.servustv.com/at/Medien/Vorschau-Thomas-Morgenstern-Sommer-der-Entscheidung
http://www.tagesanzeiger.ch/sport/wintersport/simon-ammann/story/30001614?track
http://www.srf.ch/sport/mehr-sport/skispringen/ammann-ein-wichtiges-erfolgserlebnis
http://www.filmstarts.de/kritiken/196960/trailer/19545796.html
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