Philippe Müller: Verletzungen bewältigen

Zerrungen, Muskelfaserrisse, Bänderrisse, Prellungen sowie Schürf- und Platzwunden sind die häufigsten Sportverletzungen. Egal, ob Profi oder Amateur, ein “Sportunfall” wirft immer ein gehöriges Stück aus der Bahn. Während die Schmerzen oft nach kurzer Zeit besiegt sind, haben nicht wenige Athleten auf psychologischer Ebene mit Sportverletzungen recht lang zu kämpfen. Vieles bleibt dabei an den Sportlern selbst hängen.

Zum Thema: Welchen Einfluss haben Verletzungen auf die Psyche?

Statistisch betrachtet ist die Verletzungswahrscheinlichkeit im Sport hoch. Rund 400.000 Sporttreibende verletzen sich jährlich in der Schweiz (www.bfu.ch, 2014). Hardy und Crace (1990) berichten, dass sich mindestens die Hälfte aller Breitensportler im Verlaufe einer Sportsaison verletzen. Auch im Spitzensport sind Verletzungen keine Seltenheit. Die Verletzungshäufigkeit von Spitzensportlern variiert zwischen einem und vier Vorfällen pro Saison (Kleinert & Hermann, 2007). Im Frauen-Kunstturnen liegt die Verletzungsrate bei 70 – 80% pro Jahr (Kerr & Minden, 1988).

Die psychischen Konsequenzen einer Verletzung

Oft stehen die physischen Schäden im Zentrum einer Verletzung. Knochen müssen zusammengeschraubt, Knorpel entfernt und Wunden genäht werden. Doch was geschieht nach der akuten ärztlichen Versorgung? Was passiert auf der psychischen Ebene?

Eine Verletzung stellt für den Athleten eine schwierige Situation dar, mit der er sich auseinander setzen muss. Viele Probleme werden an den Verletzten herangetragen. Zum Beispiel steht der Sportler von der einen zur anderen Sekunde vor einer ungewissen Zukunft. Der Athlet wird mit Fragen konfrontiert, die er sich bis dahin noch nie gestellt hat: Kann der Sport weiterhin ausgeführt oder muss die Karriere beendet werden? Was kommt danach? Zudem sind für viele Spitzensportler die Wettkampfprämien und Sponsorenverträge die Haupteinnahmequelle. Eine Verletzung bedroht somit auch ihre finanzielle Absicherung. Angst vor dem Unbekannten ist die Folge.

Um erfolgreich zu sein, ist ein gutes Selbstvertrauen notwendig. Positives Denken und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sind somit existenzielle Komponenten. Der Athlet identifiziert sich zudem über den Sport. Eine Verletzung ist deshalb nicht selten ein Angriff auf das Selbstbild. Fehler müssen eingestanden werden und auf einmal ist nicht mehr alles kontrollierbar. Ein Gefühl der Wut, Hilflosigkeit und des Identitätsverlusts macht sich bemerkbar.

Auch das gewohnte Umfeld und die soziale Unterstützung fallen weg. Der Trainer als Bezugsperson kann meist nicht in der Nähe sein, da er noch weitere Athleten zu betreuen hat. Die Teamkollegen reisen von Wettkampf zu Wettkampf und haben auch keine Zeit, den Verletzten zu unterstützen. Der Sportler ist auf sich allein gestellt – im Idealfall erhält er Unterstützung von der Familie.

Einsatz der Sportpsychologie

Die Sportpsychologie kann sowohl in der Verletzungsprävention als auch in der Rehabilitation zum Einsatz kommen. Während sie bei Ersterer in Form von psychologischem Fertigkeits- und Fähigkeitstraining Anwendung findet, wird sie in Letzterer (zu) selten eingesetzt. Von vielen Verbänden wird eine gute Medizinische Versorgung angeboten, um die (physische) Genesung zu optimieren. Auf der psychologischen Ebene stehen den Athleten jedoch selten Möglichkeiten zur Verfügung. Im Sinne einer ganzheitlichen Rehabilitation und der Unterstützung der Athleten in der schwierigen Situation wären vermehrte sportpsychologische Angebote wünschenswert.

Zu den Schwerpunkten einer sportpsychologischen Begleitung nach Verletzungen gehören unter anderem die Situationskontrolle (Zurückerlangen der Kontrolle) in der Akutphase, der Aufbau der Selbstwirksamkeit in der Rehabilitationsphase, die effiziente Bewältigung der Sportverletzung in der sportlichen Rehabilitation sowie die optimale Vorbereitung auf den Wettkampfalltag in der Wettkampfvorbereitungsphase.

(Erstveröffentlichung: 09.10.2014)

 

Literaturverzeichnis:

Hardy, C.J., & Crace, R.K. (1990). Dealing with injury. Sport Psychology Training Bulletin, 1, 1-8.

Kerr, G., & Minden, H. (1988). Psychological factors related to the occurrence of athletic injuries. Journal of Sport Exercise Psychology, 10, 167-173.

Kleinert, J. & Hermann, H.-D. (2007). Umgang mit Verletzungen aus sportpsychologischer Sicht. Leistungssport, 2, 43-49.

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Philippe Müller
Philippe Müllerhttp://www.die-sportpsychologen.de/philippe-mueller/

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1 Kommentar

  1. […] Laut der FIFPro-Studie seien Sportler besonders gefährdet, an einer Depression zu erkranken, wenn Verletzungen vorlägen. „Spieler, die drei oder mehr Verletzungen erlitten hatten, haben demnach zwei- bis viermal so viele mentale Probleme“, schreibt sportschau.de. Wie die Sportpsychologie Athleten bei der Bewältigung von Sportverletzungen helfen kann, machte Philippe Müller im Oktober zum Thema von die-sportpsychologen.de. Aus seinem Beitrag wird deutlich, dass Aktive in dieser Situation oft auf sich allein gestellt sind: Verletzungen bewältigen […]

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