Karmen Dietze ist eine Marathonläuferin. Kein Profi, aber auch keine Anfängerin. Für den Frankfurt-Marathon, der Ende Oktober stattfand, hatte sie sich ein großes persönliches Ziel gesetzt: Nämlich die Strecke erstmals unter 3 Stunden und 20 Minuten zu laufen. Ganz klar: Sicher kein “Hexenwerk”, dass nur einige wenige Menschen auf dieser Welt erreichen können. Aber für eine Athletin wie “Du und ich”, die normal arbeiten geht, eine Familie hat und deren zentraler Lebensinhalt nicht der Sport sein kann, ist diese Zeitvorgabe eine echte Herausforderung, die durchaus Spuren hinterlässt. Bei Karmen Dietze begann es mit einer Erkältung, später kamen Probleme mit der Wade hinzu – der Körper sendete Warnsignale, welche die Hobby-Läuferin in der direkten Vorbereitung auf ihren Saisonhöhepunkt und das damit verbundene anspruchsvolle Ziel lange nicht erkennen wollte…
Für die-sportpsychologen.de berichtet:
Karmen Dietze
Die Mittdreißigerin steht mit beiden Beinen im Leben. Sie ist berufstätig, verheiratet und Mutter. Seit 2012 absolviert sie Marathonläufe und hat darin eine besondere Leidenschaft gefunden. Beim Frankfurt Marathon 2014 stand sie vor ihrer bislang schwersten Prüfung.
Im Sommer 2012 schlich sich der Gedanke in meinen Kopf, einmal einen Marathon zu laufen. Beschlossen und getan: Drei Monate später lief ich in Dresden nach 3 Stunden und 56 Minuten zufrieden über die Ziellinie. Dem Laufen treu bleibend, trat ich im Folgejahr in einen Laufverein ein und die Sache begann ernst zu werden. Ich nahm an Wettkämpfen teil, hatte Spaß am Läuferleben. Im Frühjahr konnte ich sowohl meine 10 km-Bestzeit stark verbessern als auch meine Bestmarke über die Halbmarathondistanz. Im April 2014 lief ich meinen zweiten Marathon. Schon damals war ich im Vorfeld nervös und angespannt, traute mir nicht zu, eine bestimmte Geschwindigkeit zu schaffen. Meine „Mit“läufer aber glaubten daran, motivierten mich und bekamen Recht: Beschwerdefrei überholte ich mich quasi selbst und war mit 3:26:44 eine halbe Stunde schneller als beim ersten Marathon. Das Lauffieber hatte mich gepackt und auch wenn ich mir sagte, dass ich für dieses Jahr zufrieden und stolz sein könne, wusste ich, dass da noch mehr gehen kann. Der Wunsch, in meiner Heimat zu starten und beim Frankfurt-Marathon richtig Gas zu geben, fixierte sich in meinem Kopf. Die 3:20 knacken zu wollen, wurde zu einer festen Idee und so stellte ich mir einen Trainingsplan zusammen und begann das erste Mal nach Vorgabe zu trainieren. Alles lief super – ich nutzte Wettkämpfe für Tempoeinheiten, war verletzungsfrei, motiviert und als dann auch meine Familie begriff, dass ich davon nicht abzubringen war, musste ich mich nicht mehr ständig rechtfertigen. Denn Nichtläufer können es bekanntlich ja nicht verstehen, warum man sonntags um fünf Uhr zu einem langen Lauf aufsteht, um zurück zu sein, wenn die Familie erwacht. Im Ergebnis konnte ich also unterstützter trainieren.
Mir war immer klar, dass eine Verbesserung um sieben Minuten nicht leicht sein wird. Aber ich wusste auch, dass ich es schaffen kann. Ich hatte immer Begleitung: sowohl bei den langen Läufen als auch bei den von mir nicht geliebten Intervallen. Und alle wussten: Die Karmen schafft das. Einige fanden, ich müsse wöchentlich mehr Kilometer machen, wieder andere meinten, das Tempo würde fehlen. Ich lies mich nicht beirren und hielt mich an den Plan – aber irgendwie blieb doch immer etwas im Kopf hängen … was, wenn ich wirklich zu wenig mache? Langt es, vier Mal wöchentlich die Schuhe zu schnüren?
Stress, Sorgen, Hektik
Ohne es wirklich zu bemerken, begann sich etwas zu verändern: Bedingt durch privaten Stress und Sorgen sowie Hektik im Arbeitsalltag, verpasste ich es, auf meinen Körper hören. Warum sollte ich auch? Er machte doch alles mit, was ich wollte! Eine Freundin begann sich zu sorgen – ich würde zu viel machen und mich zu wenig ausruhen, hätte neben der Lauferei zu viel anderes um die Ohren. Unsinn, ich bin robust, eine Powerfrau, dachte ich. Außerdem stand doch im Trainingsplan, dass heute noch ein flotter Dauerlauf dran ist, der durfte nicht fehlen. Und es waren ja nur noch drei Wochen bis zum großen Tag!
Ich bekam eine leichte Erkältung. Nicht schlimm, mein Körper kämpfe erfolgreich dagegen an, aber ich konnte einige Tage nicht laufen. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Kam es mir nur so vor oder postete auf einmal jeder auf Facebook seine Trainingseinheiten? Es muss so gewesen sein, überall wurde nur von flotten und langen Läufen erzählt, meine Beine begannen nachts zu kribbeln, ich konnte es nicht erwarten, endlich auch wieder Laufen zu gehen. Ich hatte Angst, dass mein ehrgeiziger Plan daran scheitert, auch nur einen weiteren Tag zu pausieren. Ein Testlauf (10 km in normalem Tempo) ging gut und so wollte ich am nächsten Tag wieder in den Trainingsplan einsteigen. Hektik im Büro und mehrere Diskussionen mit Vereinskameraden über meine Taktik in Frankfurt spannten mich an und leicht genervt sagte ich allen, die mit mir laufen wollten, ab. Ich musste allein sein, drehte Vivaldi auf, lief mich ein und begann mit dem für den Marathon geplanten Tempo. Was fühlte sich das gut an! Alleine durch den Frühherbst zu preschen und die Beine auszuschütteln war einfach nur herrlich. Doch halt, was war jetzt los, warum fühlt sich mein Bein so komisch an? ZACK schoss ein scharfer Schmerz durch meine Wade und zwang mich umgehend zum Halt. Dehnen, Humpeln …. Verdammt, die Schmerzen taten höllisch weh und Panik durchkroch mich. Augenblicklich schossen mir Tränen in die Augen, denn für mich war klar: alles war umsonst, aus, vorbei. Die unterschiedlichsten Gefühle rangen miteinander: Wut, Verzweiflung, auch Trauer, Erschöpfung, Unverständnis und die Erkenntnis, dass ich an meine Grenze gestoßen bin – ich hatte wochenlang hart trainiert und jetzt sollte ich mir ausgerechnet selbst einen Strich durch die Rechnung machen, indem ich ausgepowert und mit Wadenproblemen nicht starte?
Nach stundenlangem Weinen, Fluchen und Fast-Aufgabe rief ich Oliver Stoll an, von ihm erhoffte ich mir eine Lösung, am besten in Form einer Wunderheilung. Ich kannte ihn von Läufen in Leipzig und als Sportpsychologe musste er einfach eine Lösung parat haben. Eine fertige Lösung in dem Sinne hatte er nicht, er konnte mich nicht ins Ziel bringen, zeigte mir aber den Weg, den ich gehen musste. Er erklärte mir, dass mein Problem nicht in der Wade sitzt sondern im Kopf. Und wenn der nicht frei ist, nutzt auch kein Trainingsplan etwas – der Körper streikt.
Der halbe Marathon wird im Kopf gelaufen
Der halbe Marathon wird im Kopf gelaufen – also musste etwas Mentaltraining her. Positive Gedanken kommt bitte in Scharen zu mir, dachte ich. Das Prinzip war simpel: genau, wie auch ein (Bein)Muskel Entspannungsphasen braucht, schafft es auch mein Kopf nicht, im Dauerbetrieb volle Leistung zu bringen – ‚Entspannung‘ war das Zauberwort, um meinem Stress entgegenzutreten und Druck abzubauen.
Ganz so einfach war es leider nicht, man kann sich selbst leider nichts vormachen und muss sich mit den eigenen Gefühlen konfrontieren. Versagensängste, Leistungsdruck, privater Stress, körperliche Anstrengung – das alles fordert Tribut und „nur wollen“ zaubert all dies nicht einfach weg.
Aber ich kannte ja jetzt den Weg und fasste Mut. Es gelang mir nicht sofort, mich wirklich zu entspannen oder mir einzureden, dass mir die vom Körper auferlegte Zwangspause überhaupt nichts ausmache. Dass ich nicht nervös wurde, wenn ich sah, wie die anderen locker weiterlaufen.
Für mich machte es in dem Moment klick, als ich mir selbst „vergab“. Ich war meinem Körper nicht mehr böse, dass er mich zum Stillstand gebracht hatte, sondern dankbar, dass es nur Wadenkrämpfe waren und nichts Schlimmeres. Ich klinkte mich für eine Weile aus der Läuferwelt aus, verließ sämtliche Chats und konzentriere mich darauf, Stressfaktoren in meinem Leben zu minimieren. Dann kam der Zufall ins Spiel: Ich traf die Freundin eines Läufers, die mir erzählte, dass sie in Frankfurt auch laufen wolle undzwar gemütlich. Das war die Lösung: Warum nicht mit ihr langsam laufen und nach fünf Stunden ins Ziel kommen? Liebe Wade, bitte, das schaffst du doch, oder? Ich ärgerte mich nicht mehr, dass das Training umsonst war. Auf einmal freute ich mich auf Frankfurt, statt einer ehrgeizigen Zeit wollte ich jetzt Spaß haben, jeden Kilometer genießen, einen tollen Lauf erleben. Mein Kopf war frei, ich entspannt, mein hartes Training nahm ich als Lehrphase mit, es kam mir so vor, als fiele sämtlicher Druck von mir ab. Und als mein Laufpartner Thomas sagte, dass er auch gerne mitkäme (“es sei eine Herausforderung, so langsam zu laufen”) – war ich glücklich!
Ich lief einige Tage nicht, was wirklich ungewohnt war. Motorradausflüge, Radtouren, Kirmes standen auf dem Programm. Die Wade machte keinen Mucks. Schon ein paar Tage vor dem Marathon fuhr ich mit Mann und Kindern zu meiner Familie nach Frankfurt und lenkte mich ab. Fünf Tage vor dem Marathon testete ich zaghaft meine Beine. Wow, das lief ja gut! Zwei Tage später wieder, diesmal klappten auch die Steigerungsläufe.
Ganz ohne Druck
Es kam ein Moment, der mich früher unter Druck gesetzt hätte: Sollte ich es riskieren? Wenn alle meinen, dass meine Wadenprobleme aus dem Kopf kamen, dieser jetzt aber frei ist – könnte dann ein schneller Marathon doch klappen? Was, wenn die Wade nach ein paar Kilometern streikt? Überschätzte ich mich selbst? Ich sprach mit ein paar Freunden und kam gemeinsam mit meinem Laufpartner zu dem Entschluss, dass wir es versuchen wollten: nicht ganz so schnell wie ursprünglich geplant aber auch nicht ganz langsam. Und immer nach dem Motto: „Nehmen, wie es kommt, nicht fordern“.
Der Marathontag kam. Auf der Fahrt dorthin war ich so entspannt, dass ich mich selbst kaum wieder erkannte. Normalerweise bin ich ein hippeliger Typ, doch an dem Morgen war ich ruhig, ausgeglichen, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ich freue mich einfach nur auf einen tollen Lauf.
Im Nachhinein kann ich es immer noch nicht glauben: Gemeinsam mit Thomas lief ich sehr gleichmäßig meinen dritten Marathon, da mein Kopf frei war, hatte ich darin Platz für die schönen Dinge. Ich saugte alles in mir auf, die tobende Stadt, meinen Bruder, der voller Stolz „du rockst das!“ durchs Mikrofon schrie, den Stolz im Gesicht meiner Familie, die mit Plakaten und Tröten an der Strecke standen, das Abklatschen der vielen Kinderhände am Rand, die armen Läufer, die mit Krämpfen pausieren mussten. Heimlich führte ich mit meiner Wade Gespräche und bedankte mich, dass sie mich die ganze Strecke nicht im Stich gelassen hat.
Schmerzfrei, fast bis zum Ende locker und einfach nur zufrieden kam sie dann – die 3:19:21!
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