In der Regel dauert der Weg aus der Kabine in den Ring nur ein bis zwei Minuten. In den meisten Kampfsportarten gehören diese Meter aber zur Inszenierung des Kampfes und werden daher allen voran für das Publikum mit Theatralik aufgeblasen. Aber auch für die Athleten, betont Christian Reinhardt, ist der Gang in den Ring richtungweisend. Am Beispiel von Mixed Martial Arts (MMA) erklärt der Szene-Kenner die Bedeutung des Walkouts für Kampfsportler.
Für die-sportpsychologen.de berichtet Christian Reinhardt:
Die Mixed Martial Arts (MMA) sind, und waren schon immer, ebenso eine physische wie auch eine psychologische Herausforderung. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, um nachvollziehen zu können, dass ein Kampf gegen einen gut trainierten Gegner in einem Käfig inmitten einer aufgeheizten Menge eine extreme Beanspruchung darstellt. Dazu kommen noch die mit einem Sieg oder einer Niederlage verbundenen Konsequenzen. Ein Sieg kann Ruhm und Ehre bedeuten, während eine Niederlage neben den gesundheitlichen Folgen auch das Karriereende und ggf. sogar existenzielle Probleme zur Folge haben kann. Es ist daher für einen MMA-Kämpfer von entscheidender Bedeutung seine Fähigkeiten auch unter diesen Bedingungen abrufen zu können. Der ehemalige UFC Welterweight Champion George St. Pierre prägte in diesem Zusammenhang den Satz: „The best fighter never wins, it’s always the guy who fights the best“ [Am Ende gewinnt nicht der beste Kämpfer, sondern der, der am besten kämpft].
Bis zu seinem (vorläufigen?) Karriereende folgte er diesem Credo. Seine Vorbereitungen auf Kämpfe waren so akribisch, dass Kritiker sie als „zwanghaft“ bezeichneten. In jedem Fall war er damit sehr erfolgreich (25 Siege – 2 Niederlagen). Ein Aspekt, der im Rahmen der Vorbereitung auf einen Kampf wichtig ist, jedoch oft vergessen wird, ist der ‚Walkout‘ ,also der Weg von der Kabine zum Käfig. Abhängig von den örtlichen Gegebenheiten und dem Verhalten der Sportler dauert dieser Prozess lediglich ein bis zwei Minuten und scheint in erster Linie rein funktional. Schließlich müssen die Kämpfer ja irgendwie in den Käfig/Ring kommen. Tatsächlich ist dieser Moment im Hinblick auf den Kampf von enormer Bedeutung. Um seine Fähigkeiten in einem Wettkampf optimal abrufen zu können, ist die Vorbereitung, vor dem Kampf in die richtige mentale Verfassung zu kommen (Vorstartzustand), einer der entscheidenden Aspekte einer Höchstleistung.
Unmittelbar vor dem Walkout sind die Sportler meist so angespannt, dass selbst erfahrene Kämpfer beginnen an sich selbst zu zweifeln. Die physiologische Aktivierung, die Erkenntnis der Bedeutung des bevorstehenden Wettkampfes und die damit verbundenen emotionalen und kognitiven Prozesse haben mitunter gravierende Auswirkungen. Chael Sonnen berichtet in seinem Buch „The Voice of Reason: A VIP-Pass to Enlightenment“ (S.148), dass die Anspannung bei ihm so groß ist, dass er eine ganze Reihe von Missempfindungen verspürt: Sein Sehvermögen ist teilweise so eingeschränkt, dass er nur vage die Formen in seinem Umfeld erkennt und auch sein Hörvermögen ist stark eingeschränkt. Die meisten Kämpfer berichten ähnlich intensive Vorstartzustände, die allesamt natürlich wenig geeignet sind sportliche Höchstleistung zu generieren. Der Walkout ist deshalb für den Sportler so wichtig, weil er eine Möglichkeit bietet, diesen unproduktiven Erregungszustand in einen produktiven Vorstartzustand zu überführen. Jeder hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass er vor einer Aufgabe stand, die ihm Angst eingeflößt oder ihn zumindest beunruhigt hat und bei der tatsächlichen Durchführung dann jedoch verhältnismäßig ruhig und konzentriert war. Diese Transformation des Gefühlszustandes kann zufällig geschehen. Wir sehen oder bemerken etwas, das uns Sicherheit gibt. Bei einem sportlichen Wettkampf auf absoluten Spitzenniveau sollte jedoch nichts dem Zufall überlassen werden. Es ist daher ein elementarer Teil des sportpsychologischen Trainings von Athleten wie St. Pierre einen optimalen Vorstartzustand herbeizuführen.
Das geschieht in 7 Schritten:
1. Aktive Auseinandersetzung mit dem Thema
Die emotionalen Reaktionen auf die Stresssituation im Vorfeld des Kampfes können an den Reserven eines Athleten zehren und die Leistung negativ beeinflussen. Gleichzeitig sind sie aber völlig normal. Fast jeder Mixed Martial Artist erlebt (in unterschiedlicher Ausprägung) solche Reaktionen. Die „Entpathologisierung“ dieses Zustandes ist von entscheidender Bedeutung. Der Sportler muss wissen: Mit mir ist alles in Ordnung. Das, was ich erlebe ist normal und es gibt Strategien, die ich erlernen kann um damit umzugehen. UFC Halbschwergewichtschampion Jon Jones sagte in einem Interview, dass einer der wichtigsten Sätze seines Coach Greg Jackson für ihn ‘Be comfortable being uncomfortable’ (www.bloodyelbow.com) sei.
2. Dem Körper antworten
Die Erhöhung der physiologischen Aktivierung ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Das Problem liegt in der Deutung dieser Veränderungen als Angst, Ärger und Besorgnis. Diese negativen Emotionen führen ihrerseits zu einer weiteren Aktivierung, was wieder in mehr negativen Emotionen resultiert usw. Der Schlüssel zum Durchbrechen dieses Teufelskreises liegt darin, die körperlichen Veränderungen auf eine rationale Art und Weise zu analysieren und die Emotionen in eine positive Richtung zu lenken. Beispielsweise kann die zunehmende Aktivierung als sinnvolle, freudige Erregung mit der sich der Körper für die anstehende Leistung bereit macht, interpretiert werden. Die körperlichen Signale nutzen professionelle Athleten als Hinweisreize, sich auf zuvor festgelegte, handlungsrelevante Dinge zu konzentrieren (Kampfstrategie, Trainingsroutinen).
3. Sich selbst kennen und steuern lernen
Es ist wichtig, sich selbst zu kennen. Welche Gedanken und Handlungen sind für mich leistungsfördernd? Wie soll meine Körperwahrnehmung sein? Was ist für mich das optimale Erregungsniveau? Wie kann ich meine Aktivierung steuern? Hinsichtlich der Aktivierungsregulation sind natürlich Entspannungsverfahren hilfreich. Da jeder Mensch einen etwas unterschiedlichen Zugang zu diesen Verfahren hat, empfiehlt es sich einige Verfahren auszuprobieren, um das für sich passendste zu finden. Darüber hinaus trainieren die meisten Spitzensportler Handlungsroutinen in Stresssituationen. Das kann bspw. ein eingeübter Satz („Das mein Körper, der sich darauf vorbereitet eine Höchstleistung abzurufen!“) in Verbindung mit einer positiven Vorstellung (z.B. ein zurückliegender oder zukünftiger Sieg). Für Entspannungsverfahren und Handlungsroutinen gilt, dass beide regelmäßig und in der letzten Form praxisnah trainiert werden müssen. Ein Verfahren, dass stets in einem ruhigen Raum mit entspannender Musik trainiert wird, wirkt in einer Arena mit 20.000 Zuschauern wahrscheinlich nicht zufriedenstellend. Deswegen ist es wichtig die Techniken unter den Bedingungen zu perfektionieren, denen sich der Sportler im Zweifelsfall gegenüber sieht. Das ist z.B. als Zuschauer bei einem Kampf in der Arena oder hinter den Kulissen möglich. Letztlich werden diese Techniken nicht die ganze Anspannung lösen, jedoch helfen, die Emotionen in positivere Bahnen zu lenken. Diese Fähigkeit kann im Spitzensport den Unterschied zwischen gewinnen und verlieren ausmachen.
4. Kabine
Durch die Entwicklung einer festen Aufwärmroutine kann die Unsicherheit reduziert und die Aufmerksamkeit des Sportlers auf geeignete Schlüsselreize wie bspw. die Technik und das Körperbewusstsein gerichtet werden. Der Vorteil einer eingeübten Routine ist, dass der Kämpfer den Ablauf perfekt kennt. Zu wissen, was wann passiert und wie man darauf reagiert, das Gefühl etwas Vertrautes zu haben, gibt Sicherheit. Gleichzeitig wird mit der physiologischen Aktivierung der vorliegenden psychologischen Aktivierung entsprochen, was wiederum stresslindernd wirkt. Außerdem ist es gut, Bilder, Symbole, Sätze oder ähnliches in der Kabine anzubringen, die den Sportler an die eigenen Fähigkeiten erinnern und motivieren. Jon Jones hat angeblich immer einen Zettel mit einem Spruch, auf den er sich zu Beginn des Trainingscamps mit seinem Team geeinigt und den er wie ein Mantra verinnerlicht hat, in der Kabine hängen. Viele Kämpfer haben darüber hinaus Fotos von ihren Erfolgen oder der Familie dabei. Ebenso wie eine standardisierte Aufwärmroutine helfen natürlich auch sonstige feste Abläufe in der Kabine. Carlos Condit schaut sich immer selbst im Spiegel lange in die Augen um seine Entschlossenheit zu festigen. Fabricio Werdum betet gemeinsam mit seinem Team…
5. Musik
Das Auswählen der Musik, zu der der Sportler seinen Weg zum Käfig beschreiten wird, mag an dieser Stelle als recht banaler Punkt wirken. Allerdings hat Musik einen großen Einfluss auf unser Befinden. Die Musik sollte also im Hinblick auf den angestrebten Zustand ausgewählt werden. Die wenigsten Menschen würden z.B. ein Deathmetal Album für eine Yogastunde aussuchen. Für einen Kämpfer empfiehlt es sich einen Titel auszuwählen, der nicht permanent im Radio gespielt wird, und ihn im Verlauf des Trainingscamps immer mal wieder laut einzuspielen. Vorzugsweise nach sehr gelungenen Trainingseinheiten oder bei der Betrachtung großer Erfolge. Auf diese Weise verbindet der Sportler die Musik automatisch mit einem positiven Gefühlszustand. Neben dem optimalen Vorstartzustand unterliegt die Auswahl der Musik noch anderen Überlegungen. So ist es natürlich für einen Sportler auch wichtig, sich einen Namen zu machen (ein stets gleicher Walkout-Song stellt gewissermaßen ein Markenzeichen dar). Musikgeschmack kann sich natürlich ändern. Chael Sonnen hat in diesem Zusammenhang schon mehrfach erwähnt, dass er seinen Einlaufsong (Daryle Singletary: Too Much Fun) eigentlich nicht mehr mag, aber entschieden hat ihn nicht zu ändern, da er nicht mit der Routine brechen will.
6. Walkout
Zu den einfachsten und häufigsten Strategien, denen sich Sportler bedienen um ihren Befindlichkeitszustand zu verändern, zählen der Settingwechsel (das Gehen an einen anderen Ort) und das Hören von Musik. Die Kombination beider Möglichkeiten bietet der Walkout. Der Gang durch die Katakomben kann allerdings auch verwirrend und ablenkend sein. Das Betreten der Arena und der Weg zum Käfig ebenso. Es ist daher wichtig sich auf diesen Weg vorzubereiten. Der Sportler muss sich unbedingt mit der Sportanlage vertraut machen. Im Rahmen des sportpsychologischen Trainings besteht die Möglichkeit, durch Vorstellungsübungen (Visualisierungen) den Walkout zu simulieren. Für das Gehirn ist der Unterschied zwischen einer realistischen Vorstellung und dem tatsächlichen Erleben einer Situation sehr gering. Entscheidend ist dabei die Qualität der Visualisierung. Die Vorstellung muss möglichst detailgetreu sein. Dabei gilt es alle Sinneseindrücke zu berücksichtigen: Was werde ich sehen (evtl. kaum etwas, weil das TV-Licht stark blendet)? Was werde ich hören (das dumpfe Hallen meiner Musik in der Arena, das gedämpfte Publikum, mein Team…)? Was werde ich riechen (auch das ist wichtig!) und was fühlen (Temperatur, ermutigendes Klopfen auf den Rücken…)? Wie verläuft der Weg durch die Katakomben? Beim Eintritt in die Arena verändern sich alle Sinneseindrücke. Was rieche, höre, sehe und fühle ich hier? Wird mir das Publikum gewogen oder eher gegen mich sein. Wie viel Platz habe ich auf dem Weg zum Käfig? Während einige Kämpfer die Reaktion des Publikums brauchen, um sich sicherer zu fühlen und teilweise sogar noch die Stimmung anheizen (z.B. Alistair Overeem), versuchen andere sich davon so weit wie möglich abzuschotten (z.B. Tyron Woodley). Was dem Sportler mehr hilft, muss er für sich herausfinden.
7. Im Käfig
Am Ende des Walkouts steht der Einzug in den Käfig. Wenngleich die Richtlinien für den Käfig im Allgemeinen sehr eng gefasst sind, gibt es immer wieder kleine Unterschiede. Aus diesem Grund muss sich im Vorfeld mit dem aktuellen Kampfplatz vertraut gemacht werden. Dabei ist auch der Zeitpunkt des Kampfes wichtig. Bei einem Kampf gegen Ende der Veranstaltung wird beispielsweise der Boden nicht mehr die gleiche Sauberkeit und Griffigkeit haben wie vor den Kämpfen. Für die Zeit im Käfig vor dem offiziellen Teil sollte auch eine Routine entwickelt werden. Streng genommen zwei: eine für den Fall, dass der Sportler als Erster die Arena betritt und noch auf den Einzug des Gegners warten muss und eine, für den Einzug als Zweiter.
Es ist bekannt, dass die intensive Beobachtung des Walkouts eines Gegners negative Auswirkungen auf die Konzentration haben kann, vor allem, wenn die Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird, wie technisch gut (sicher) der andere seinen Einzug in die Arena absolviert. Diese Erkenntnis kann auf zwei Arten verwandt werden. Einerseits unterliegt nur der eigene Walkout der Kontrolle des Sportlers, deshalb sollte die Aufmerksamkeit nur darauf gelenkt werden. Andererseits kann man natürlich auch versuchen den Konkurrenten bei seinem Walkout, seiner Vorbereitung auf den Kampf zu stören. Anderson Silva hat mehrfach geäußert, dass für ihn der Kampf mit dem Walkout beginnt. Insofern verwundert der Bericht von Chris Weidman nicht, der sich als Herausforderer bei UFC 162 bei seinem Walkout gestört sah, da hinter ihm und seinen beiden Trainern bereits Anderson Silva mit seinem gesamten (deutlich größeren) Team wartete und sich lautstark bemerkbar machte. Beim Rückkampf (UFC 168) wartete Silver (der nun der Herausforderer war) auffällig lange mit seinem Walkout und irritierte Weidman so erneut. Neben der Irritation des Kontrahenten sind natürlich auch Dominanzsignale sehr wichtig. Dabei geht es nicht darum tatsächlich absolut sicher und von der eigenen Überlegenheit überzeugt zu sein, sondern darum diesen Eindruck zu erwecken.
Quellen:
Sonnen, C. (2012). The Voice of Reason: A VIP-Pass to Enlightenment. Victory Belt Publishing. Auberry, California.
metroPCS: https://www.youtube.com/watch?v=9GzhFMATMVA
metroPCS: https://www.youtube.com/watch?v=t2fe0A4F5_4
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