Cristiano Ronaldo trägt den Titel Weltfußballer des Jahres. Ganz offiziell ist er also der aktuell beste Kicker aller Kontinente. Bei der in Brasilien stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft kämpft der Portugiese aber dennoch gegen das frühzeitige Ausscheiden – einmal mehr scheint der konstruierte Superstar-Avatar „CR7“ bei einem internationalen Turnier auf menschliches Niveau herabgestuft zu werden. Dies liegt sicher nicht vorrangig an ihm, vielmehr an seinen durchschnittlich begabten (siehe Hugo Almeida) und überdurchschnittlich undisziplinierten (siehe Pepe) Mitspielern.
In dieser Situation leidet der durch und durch perfekte Cristiano Ronaldo wie kein anderer. Denn normalerweise hat der maximal austrainierte, technisch anderen Weltfußballern vielleicht noch überlegene und wie besessen an seinen Skills arbeitende 29-Jährige jedes Detail unter Kontrolle. Verletzungen lässt er von einem eigenen Ärzteteam behandeln, zur Regeneration leistet sich der Real Madrid-Profi eine heimische Kältekammer und was auf dem Platz passiert, dass entscheidet im Normalfall er (siehe Zitat seines Ex-Trainers José Mourinho: „Ich habe versucht, bei ihm was zu verbessern, was er nach meiner Meinung verbessern kann. Er nahm das nicht an, weil er denkt, er weiß alles, und ein Trainer könne ihm nicht mehr helfen, sich zu verbessern.“).
Das drohende Scheitern oder womöglich der große Triumph des Cristiano Ronaldos bei der Fußball-Weltmeisterschaft ist Anlass genug, dass wir uns hier mit dem Thema Perfektionismus befassen. In den nächsten Tagen wird es spannend, welche Seite die Welt von „CR7“ zu sehen bekommt.
Für die-sportpsychologen.de: Prof. Dr. Oliver Stoll
Perfektionismus im Sport – Fluch oder Segen?
Athleten mit perfektionistischen Tendenzen sind keine Seltenheit. Gerade in den technisch-kompositorischen Sportarten ist die Fähigkeit, eine Bewegung so perfekt wie möglich ausführen zu können, ein zentraler Faktor in der Leistungserbringung. Aber auch in anderen Sportarten, insbesondere in Sportarten, in denen es unter anderem auf das Material bzw. die Materialbehandlung ankommt sind perfektionistische Tendenzen durchaus hilfreich und können die sportliche Leistung unterstützen. Andererseits kann Perfektionismus auch störend wirken. Diese eher negative Seite dieser Persönlichkeitsdisposition wird insbesondere dann deutlich, wenn Athleten ihre in der Regel hohen, selbst definierten Ziele nicht erreichen. Oftmals reagieren sie dann mit Wut, Ärger und frustrierenden Selbstgesprächen, die von Selbstzweifel und Besorgnis gekennzeichnet sind.
Perfektionismus ist eine überdauernde Persönlichkeitsdisposition, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Individuen, die eine hohe Perfektionismusausprägung aufweisen, sehr hohe, teilweise auch manchmal unrealistische Ansprüche an sich selbst stellen und mit negativen Emotionen reagieren, wenn sie diese Ansprüche nicht erfüllen können. Historisch betrachtet kommt die Perfektionismusforschung eher aus der Klinischen Psychologie. Der vorliegende Forschungsstand zum Thema zeigt, dass insbesondere Suchterkrankte häufig hohe Perfektionismustendenzen aufweisen. Die Suchterkrankung ist somit häufig eine Konsequenz nicht verarbeiteter Misserfolge aus Leistungssituationen, die auf der Basis unrealistischer Zielsetzungen, also zu hohen Selbstansprüchen, entstanden sind. Der dadurch entstandene subjektiv erlebte Kontrollverlust wird dann mit Handlungen kompensiert, die diesen erlebten Kontrollverlust kompensieren sollen. Das Ergebnis solcher Kompensationshandlungen ist dann mitunter die Ausprägung einer psychosomatischen Störung.
Somit wurde also dieses psychologische Konstrukt, auch im Sport zunächst eher kritisch und negativ bewertet. Eine differenziertere Betrachtung dieses Konzepts, auch im Leistungssport, erfolgt erst seit knapp zehn Jahren. Das erste Problem, dass es zu lösen galt, war die Entwicklung einer Psychodiagnostik (in Form eines Fragebogens), die das Perfektionismuskonstrukt insbesondere im Sport differenzierter erfassen konnte. Somit entstand im Jahr 2004 das Multidimensionale Inventar zur Messung von Perfektionismus im Sport (MIPS). Der MIPS misst also zum einen das Vorliegen perfektionistischer Bestrebungen im Sport im Sinne des Strebens nach einem sich selbst gesteckten, hohen, sportlichen Ziels (Perfektionistische Bestrebungen) und zum anderen die Ausprägung negativer Emotionen bei einer Nichterreichung dieses selbst gesteckten Ziels (Negative Emotionen). Es folgten dann eine Reihe verschiedener Querschnittstudien im Sport, die nachweisen konnten, dass die Dimension der Perfektionistischen Bestrebungen von Athleten eher mit einer generell hohen Leistungsmotivation und die Ausprägung der Dimension der negativer Emotionen bei einer verfehlten Zielerreichung hoch mit Angst und Selbstzweifel korrelierten. Somit konnte zunächst festgestellt werden, dass Perfektionismus im Leistungssport nichts Negatives zu bewerten ist, solange der Athlet in der Lage ist, seine negativen Emotionen zu kontrollieren.
Negative Reaktionen müssen kontrolliert werden
Jedoch blieb der eigentliche, objektive Nachweis der leistungsmindernden oder der eher leistungsfördernden Rolle des Perfektionismus im Sport noch aus. Darüber hinaus wurden die ersten Querschnittstudien zumeist nur an Sportstudierenden durchgeführt und nicht etwa an Hochleistungssportlern. Das Erfolgskriterium war in den ersten Studien ein sogenanntes eher „weiches“ Kriterium, nämlich die Selbstberichte der Probanden.
Ein erster Fortschritt in der weiteren Erforschung dieses Konstruktes konnte eine Studie an den insgesamt 160 besten Eishockeyspielern im U16-Bereich aus Finnland zeigen. Hier konnten die schon oben genannten Zusammenhänge zwischen Perfektionistischen Bestrebungen und positiven motivationalen Konstrukten (wie z.B. einer leistungsförderlichen Zielorientierung) und Negativer Emotionen mit eher negativen motivationalen Konstrukten (wie z.B. einer reinen, eher leistungsmindernden Ergebnisorientierung) erstmals an einer Stichprobe von Hochleistungsathleten repliziert werden. In einer darauf folgenden Studie wurde dann erstmals mit einem objektiven Leistungsparameter operiert. Im Rahmen eines korrelativen Untersuchungsdesigns sollten 122 Probanden insgesamt vier Serien mit jeweils sieben Würfen einer – eher für den Basketball atypischen – Wurfleistung durchführen. Vor der Absolvierung der Aufgabe beantworteten die Versuchspersonen das „Mehrdimensionale Inventar Perfektionismus im Sport“. Ein zentrales Ergebnis war, dass die erfolgreicheren Probenden höhere Ausprägungen in der Subdimension der Perfektionistischen Bestrebungen aufwiesen. Die Dimension der Negativen Reaktionen hatte keine leistungsprognostische Funktion. Somit konnte das zunächst auf eher „weichen“ Kriterien basierende Ergebnis, nämlich dass Perfektionismus im Sport durchaus hilfreich im Leistungserbringungsprozess wirken kann, nun erstmals auch auf der Basis motorischer Leistungsdaten bestätigt werden. Aktuell laufen weltweit Untersuchungen, die eine leistungsbeeinträchtigende oder –fördernde Funktion bei Triathleten aufklären soll. Darüber hinaus werden aktuell sportpsychologische Interventionsprogramme entwickelt, die hoch perfektionistischen Athleten helfen sollen, ihre möglicherweise auftretenden negativen Emotionen nach Nichterfüllung der eigenen sehr hohen Zielstellungen besser zu bewältigen und somit von den eigentlich leistungsfördernden Perfektionistischen Bestrebungen zu profitieren. Eine erst kürzlich erschienene Übersichtsarbeit, die nahezu alle vorliegenden Studien zum Zusammenhang von Perfektionismus im Sport und Leistung diskutiert, unterstreicht die Tatsache, dass Perfektionismus im Sport per se – nicht schlecht sein muss, sondern tatsächlich hilfreich sein kann, wenn die negativen Reaktionen bei Nichterfüllung der eigenen Standards kontrolliert werden können.
Literaturhinweise
Stoeber, J., Stoll, O., Peschek, E. & Otto, K. (2008). Perfectionism and Achievement Goals in Athletes: Relations with Approach and Avoidance Orientations in Mastery and Performance Goals. Psychology of Sports and Exercise, 9, 102-212.
Stoll, O., Lau, A. & Stoeber, J. (2008). Perfectionism and Performance in a New Basketball Training Task: Does Striving for Perfection Enhance or Undermine Performance? Psychology of Sports and Exercise, 9, 620-629.
Stoeber, J., Stoll, O., Salmi, O., Tiikaja, J. (2009). Perfectionism and Achievement Goals in Young Finnish Ice-Hockey Players. Aspiring to Make the U16 National Team. Journal of Sports Sciences, 27, 85-94.
Gotwals, J., Stoeber, J., Dunn, J. & Stoll, O. (2012). Are Perfectionistic Strivings in Sport Adaptive? A Systematic Review of Confirmatory Contradictory and Mixed Evidence. Canadian Psychology, 53(4), 263-279.
Bildquelle: antwerpenR.com, Roger Price
Zum Autor:
Prof. Dr. Oliver Stoll (* 5. Februar 1963) studierte an der Justus-Liebig-Universität Gießen Sportwissenschaft, Psychologie und Pädagogik sowie am College of Charlestin (S.C., USA). Er promovierte 1993 zum Dr. phil. im Fach Sportwissenschaft an der Universität Gießen und wechselte 1995 an die Universität Leipzig. Hier absolvierte er eine wissenschaftliche Assistentenzeit und habilitierte hier im Jahr 2000. Im Jahr 2002 folgte er einen Ruf auf eine Professur für Sportwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sportpsychologie und Sportpädagogik an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Zum Profil von Prof. Dr. Oliver Stoll auf Die-Sportpsychologen
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Immerhin mal ein Beitrag, in dem das abgestandene Klischee von Ronaldos “Arroganz” einmal nicht bemüht wurde. Dafür gebührt Ihnen Dank!
Hallo Oliver
Toller Artikel und eine treffende Aussage im MDR Beitrag.
“Perfektionismus ist dann leistungsfördernd, wenn du in der Lage bist, deine negativen Emotionen zu kontrollieren.”
Lieber Gruss
Martin
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