Am späten Abend des 13. Juni 2014 trifft sich die Ultra-Szene im schweizerischen Biel zum 100 Kilometer-Lauf. Dieses Rennen gilt als „Mekka“ der Ultralangstreckenläufer. Im Jahr 1959 wurde es erstmals durchgeführt und gehört somit zu den ältesten Ultramarathonläufen der Neuzeit in Europa. Prof. Dr. Oliver Stoll von Die-Sportpsychologen.de macht die „Nacht der Nächte“ zu seinem Wettkampf-Highlight des Jahres. Hier berichtet er von den wichtigen Aspekten, die zur Vorbereitung einer solchen Beanspruchung nötig sind.
Zum Thema: Wie sich Sportler auf eine Höchstbelastung mental vorbereiten können
Der Streckenrekord in Biel liegt bei 6 Stunden, 37 Minuten und 59 Sekunden, aufgestellt vom Schweizer Peter Camenzind im Jahr 1996. Birgit Lennartz, im Jahr 1997, war für die Frauen ziemlich genau eine Stunde langsamer als Camenzind. Für einen Nichtläufer ist dies sicher kaum vorstellbar. Da wäre zum einen die Distanz von 100 Kilometern, für die ein durchschnittlicher Hobbyradfahrer, so er diese Distanz überhaupt zurücklegt, zwischen viereinhalb und fünf Stunden braucht. Camenzind brauchte im Laufschritt dafür nur 90 Minuten länger. Zum anderen haben wir da den Lauf durch die Nacht, denn Start ist immer Freitags um 22 Uhr – egal welche Witterung, egal welche Streckenbeschaffenheit. Nicht umsonst nennt Werner Sonntag, einer der bundesdeutschen „Ultra-Lauf-Pioniere“ die Zielerreichung der 100 Kilometer von Biel „Den Mount-Everest des kleinen Mannes“.
Schon ein Marathonlauf über etwas mehr als 42 Kilometer nötigt den meisten Menschen einiges an Respekt ab. 100 Kilometer sind da schon etwas ganz Besonderes. Und man staunt, dass sich dieser Herausforderung wieder einmal gut 2000 Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt stellen werden. Nicht alle werden das Ziel erreichen, aber diejenigen, die sich später als „Finisher“ bezeichnen dürfen, haben ein sehr umfangreiches und gut durchstrukturiertes Trainingsprogramm absolviert. Natürlich vornehmlich im Bereich der Ausdauerlauffähigkeit. Nicht selten haben die Aspiranten vor diesem Rennen nicht weniger als 1750 Kilometer in diesem Jahr in ihren Trainingstagebüchern stehen, sondern eben auch im „mentalen Bereich“. Man hört dies immer wieder, vor allen Dingen von den „alten Hasen“ im Feld. Die 100 Kilometer sind eigentlich und vor allen Dingen eine „Kopfsache“.
Ultralangstreckenläufer, vor allen Dingen diejenigen, die dies nicht semiprofesionell oder professionell betreiben, können gar nicht mehr trainieren, als ein normaler Marathonläufer. Der Unterschied besteht sehr oft lediglich in der Tatsache, dass man eben, ein bis zwei mal vorher, anstatt einen 35km-Trainingslauf eben einen 55km-Lauf durchzieht. Der Rest ist oftmals ein reiner Marathontrainingsplan.
Mit dem eigenen Drehbuch zum Ziel
Aus diesem Grund ist die mentale Vorbereitung auf solch ein Ereignis besonders wichtig. Im Wesentlichen bereitet man sich mental auf dieses Ergebnis in drei Bereichen vor. Zum einen benötigt man einen sehr detailliert ausgearbeiteten Rennplan. 100 Kilometer laufen bedeutet, sich von nichts überraschen zu lassen. Nichts ist frustrierender und schmerzhafter als zum Beispiel wunde Stellen an den dafür klassischen Körperpartien und dies schon ab Kilometer 30. Der berühmte „Wolf“ an den Schenkelinnenseiten, der aufgeriebenen Brustwarzen, vor allen Dingen dann, wenn es nass ist. Die falsche Ernährung unmittelbar vor und während des Rennens, die einen jeden schon früh an seine physischen Grenzen bringen kann. Eine gute Vorbereitung – also auch ein individuelles „Drehbuch für dieses Rennen“ ist das A und O für jedermann. Im Drehbuch sollten wichtige Teilziele der Strecke stehen sowie konkrete Selbstinstruktionen für zu erwartende Situationen. In diesem Zusammenhang kommt es insbesondere darauf an, wohin ich wann, meine Aufmerksamkeit lenke (internal oder external, eng oder weit). Während des Rennens wird es ab einem bestimmten Punkt beginnen, „weh zu tun“. Mal kommt dies früher, mal später. Dieses Gefühl muss man kennen, wenn man, vor allen Dingen kognitive Strategien entwickeln möchte, wie man damit umgeht. Es reicht also nicht aus, sich lediglich in Gedanken die richtigen Selbstgespräche auszudenken, die man für diesen Fall benötigt, sondern man muss dies auch schon mal vorher in Ansätzen ausprobiert haben – aus diesem Grund mindestens zweimal die erwähnte „Marathon-Überdistanz“ im Vorfeld absolvieren.
Die Strecke teilen
Besonders wichtig ist die richtige Grundeinstellung vor dieser Herausforderung. Angst wäre hier der falsche Ratgeber. Respekt ist durchaus angemessen. Man sollte sich diese Strecke nicht als „Ganzes“ vorstellen, sondern eben die Gesamtstrecke in mehrere, kleine, übersichtliche Teildisziplinen aufteilen. Man kann sich dann im Rennen von Teilziel zu Teilziel „durchschlagen“. Das ist viel einfacher, als ständig dieses „Damokles-Schwert“ 100 Kilometer vor seinem inneren Auge zu haben.
Auf soziale Unterstützung bauen
Unterschätzen Sie außerdem nicht die Macht 1.) der positiven Emotionen im Vorfeld und 2.) der sozialen Unterstützung vor und während des Laufes. Schneiden Sie sich ein motivierendes Video zusammen, unterlegt mit einer inspirierenden Musik und vielen, schönen Bilder, die Sie mit diesem Lauf verbinden. Arbeiten Sie in ihrer Vorstellung mit einem positiven Ausgang des Rennens. Stellen Sie sich ihren Zieleinlauf vor und genießen Sie die Gefühle, die sie damit verbinden werden. Tauschen Sie sich ruhig mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin aus. Am besten ist immer, Sie haben jemanden vor Ort, von dem Sie wissen, dass er dort ist und sie unterstützen wird.
Es wird also spannend werden, in der kommenden Freitagnacht. Nicht nur für den späteren Sieger oder die Siegerin, sondern für die vielen hundert ambitionierten Hobbyathleten, die sich oftmals nicht weniger als ein Jahr auf dieses Ereignis vorbereitet haben. Auch ich werde um 22 Uhr an der Startlinie im „europäischen Ultra-Lauf-Mekka“ stehen. Schauen wir also, ob mein „Mental-Trainingsprogramm“ aufgehen wird. Ich werde an dieser Stelle berichten.
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[…] Prof. Dr. Oliver Stoll: 100 km Laufen ist (r)eine „Kopfsache“ […]