Prof. Dr. Oliver Stoll: Grenzenlose Gelassenheit (Streakrunning-Serie, Teil 2)

Meine Erfahrungen der ersten 32 Tage Streakrunning lassen sich in zwei Worten zusammenfassen: Grenzenlose Gelassenheit. Ich weiß, das genügt Ihnen nicht. Also nun gut – 32 Tage? Warum 32 Tage? Der Januar hat doch nur 31 Tage. Ja, stimmt – aber wenn ich mir mein Trainingstagebuch so anschaue, dann stelle ich fest, dass der letzte Tag, an dem ich nicht gelaufen bin, der 30. Dezember 2017 war. Da war ich mir über mein Vorhaben noch nicht bewusst. Aber so ist es.

Zum Thema: Streakrunning-Serie, Teil 2

Trainingstagebuch – das ist mittlerweile der falsche Begriff. Ich trainiere nicht mehr, sondern ich laufe. Also – nennen wir es einfach Lauftagebuch. Kommen wir nun zu den Fakten: Ich bin im Januar insgesamt 241 km gelaufen. Im Jahr 2017 waren es 210 km im Januar. Letztes Jahr war ich kein Streakrunner. Ich bin im Januar 2017 sogar einen Marathon gelaufen – dieses Jahr nicht. Dieses Jahr waren es unwesentliche 30 km mehr.

Streakrunner-Statistik
Abbildung: Verteilung aller Läufe im Januar 2018 (kürzeste Strecke: 4,2 km – längste Strecke 21 km

Interessant, interessant. 240 Kilometer sind ca. acht km am Tag und damit deutlich mehr als ein Drittel der Strecke, die ich laufen müsste, wenn ich über das Jahr betrachtet nur die berühmt-berüchtigte Meile pro Tag gelaufen wäre, um mich Streakrunner nennen zu dürfen. Und da kommen wir auch schon zur ersten Frage, die mir gestellt wurde, als ich mich „geoutet“ habe. „Ab wann darf man sich denn Streakrunner nennen?“ Nun gut – per Definition dann, wenn du am Stück, täglich eine Meile am Tag läufst“ und seien es auch nur drei Tage. Dann kannst du dich drei Tage lang „Streakrunner“ nennen. Ich musste aber laut lachen, als ich über diese Frage nachdachte, ohne die Frage nicht ernst nehmen zu wollen, denn es war eine ernst gemeinte Frage. Ich habe über diese Frage zuvor nie ernsthaft nachgedacht. Erstens ging es mir niemals nur um eine Meile am Tag und zweitens ging es mir nie darüber, wie ich mich nennen darf (oder nicht). „Streakrunner“ – der Begriff kürzt für mich lediglich die Beschreibung einer „Leidenschaft“ und einer grundlegenden Einstellung zu sich selbst, seiner Umwelt und seinen Mitmenschen, ab. Dahinter steckt nur die Leidenschaft, laufen zu können und zu dürfen – und ja es gibt diese eine Regel (mindestens eine Meile am Tag), die es zu befolgen gilt.

Entspannte Lauferfahrung

Welche Erfahrungen habe ich im ersten Monat gemacht? Ich bin diesen Monat ganz bewusst sehr vorsichtig angegangen. Das waren zwar 30 Kilometer mehr als im Januar 2017, aber es war nicht ein einziger Lauf dabei, der im Schnitt schneller als 5:30 Minuten pro Kilometer war und über den ganzen Monat gesehen, waren es etwa 6:05 Minuten pro Kilometer. Das ist für mich eher sehr entspannt. Der Umfang war zwar höher als letztes Jahr im Januar, aber die Intensität deutlich niedriger. Letztes Jahr im Januar hatte ich z.B. einen 10 km Wettkampf in 42 Minuten dabei (also im Schnitt ca. 4:10 Minuten pro Kilometer). Darauf habe ich dieses Jahr mal entspannt verzichtet.

Und das ist wohl eine zentrale Erkenntnis. Wettkampflaufen benötigt intensive Läufe. Dazu gehören Pausen im Trainingsprozess. Ansonsten gehst du in Übertrainingsprozesse und schließlich in einer fast irreversible Erschöpfung. Streakrunning lässt das nicht zu. Wie heißt das Buch des Streakers Lutz Balschuweit? „Lebenslauf – kein Wettkampf“. Das bedeutet also, dass man sich vom „Höher, schneller, weiter“ verabschieden sollte, wenn man nicht in massive Probleme geraten möchte. Ist mir das leicht gefallen? Nein – nicht im jetzt ersten durchlebten Monat Streakrunning. Gerne hätte ich einerseits an dem einen oder anderen „Wettkampf“ teilgenommen. Zum Wintermarathon in Leipzig bin ich sogar rundenweise mitgelaufen (ca. 15 km) – und das Gefühl hier dabei zu sein, ohne eine Startnummer zu tragen, war schon sehr komisch (Danke LG Exa, dass ihr mich nicht von der Strecke genommen habt und ich sogar an der Verpflegungsstation mittrinken durfte, ohne dafür bezahlt zu haben). Das „sich vergleichen“ ist in der Laufszene so systemimmanent, das selbst ich – so reflektiert wie ich über mich und über meine Ziel bin – Probleme habe, mich davon zu lösen.

Geänderter Tagesablauf

Und ansonsten? Ich habe viel in meinem Tagesablauf verändert. Jeden Tag habe ich eine komplette Laufausrüstung im Auto (ich wohne in Leipzig und arbeite in Halle – ja, ja, ich weiß, das könnte ich ja auch laufen ?, sind ja nur 42 Kilometer). Wenn es sich auf meiner Arbeit ergibt, kann ich mich umziehen und laufen gehen. Und auch hier weiß ich, dass ich – als jemand der an einem Institut für Sportwissenschaft arbeitet – privilegierte Umstände für Streakrunning habe – nämlich Duschen am Arbeitsplatz.  

Und verändert hat sich zuhause auch einiges. Ich verbrauche gerade unglaublich viele Sportklamotten, d.h. viel Wäsche. Meine liebe Frau hat gerade großes Verständnis für mein Ziel, aber auch ihr fällt das auf und sorgt für „Mehrarbeit“ zuhause (sie macht eher unsere Wäsche). Ich werde mir da wohl etwas einfallen lassen müssen. Und – zumindest in den ersten drei Wochen war ich sehr penibel – genau zu überlegen, wann ich wo meine tägliche Laufeinheit absolviere, damit der Streak weiterhin steht. Seit Ende Januar ….ist das nicht mehr so, denn ich weiß, ich kann immer und überall laufen, wenn ich das will, und auch wenn ich Jeans und ein Hemd trage. Man mag mir vorwerfen, ich sei kultur- und niveaulos – das macht mir nichts mehr aus.

Intensivere Wahrnehmung

Und das ist wahrscheinlich die Haupterkenntnis des ersten Monats: Ja, es zwickt manchmal hier und manchmal da, aber es ist nichts wirklich etwas ernsthaftes – nichts, was mich wirklich aus der Ruhe bringt. Und wenn ich so in Halle entlang der wilden Saale und über die Peißnitzinsel laufe, und zurück über Burg Giebichenstein und das Klinikum zum Institut … oder in Leipzig durch den südlichen Auenwald, und ich in mich hineinhöre und alles funktioniert problemlos, alles läuft glatt, es läuft einfach….die Sonne schaut auch im Winter mal durch die Wolken und meine Sinne nehmen alles viel intensiver auf, als früher, dann macht sich ganz plötzlich eine grenzenlose Gelassenheit breit.

Mehr zur Serie:

Prof. Dr. Oliver Stoll: Streakrunning ist „Mentales Training“ (Streakrunning-Serie, Teil 1)

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