«Bergsteiger Ueli Steck tödlich verunglückt!» Diese Schlagzeile dominiert momentan die Medien. Die Schweiz trauert um ihren berühmtesten und erfolgreichsten Extremsportler. Der Absturz am Mount Everest macht betroffen, scheint aber auf tragische Weise jene finale Erkenntnis zu bewahrheiten, die der Alpinist selbst kürzlich in einem Interview pointiert formulierte: „Scheitern heisst Sterben“. Auch die Sportpsychologie ist gefragt, wenn es um die Sinnhaftigkeit sportlichen Strebens in der extremsten Form geht. Wo soll und muss sie sich einmischen? Kann sie helfen zu verstehen, was Extremsportler antreibt?
Zum Thema: Inwiefern kann die Sportpsychologie auch Extremsportlern helfen?
Extremsportler bezeichnen sich selbst als Grenzgänger. Sie erkennen in ihrem aussergewöhnlichen Streben nach Spitzenleistung einen besonderen Sinn, Sicherheiten aufzugeben und sich bewusst und aktiv in bedrohliche Lebenssituationen zu begeben. Der bekannte deutsche Sportpsychologe Henning Allmer (1995) hat schon früh eine noch heute gebräuchliche Systematisierung des Extremsports vorgeschlagen. „Zusammengefasst sind für Extrem- und Risikosportaktivitäten außerordentliche Strapazen, ungewohnte Körperlagen und – zustände, ungewisser Handlungsausgang, unvorhersehbare Situationsbedingungen und lebensgefährliche Aktionen charakteristisch.“ (S.64). Kritiker des Extremsports sprechen vom „kalkulierten Wahnsinn“ und beziehen sich dabei auf das nicht durch den Sportler selbst beeinflussbare Restrisiko. „Wir sprechen vom Restrisiko“, betont auch Extremsportlerin Evelyne Binsack. „Und wenn auf diesem Niveau etwas schiefgeht, kann das eben auch fatale Folgen haben.“ Triebfeder ihres Tuns sei ihre grosse Leidenschaft. Sie spricht von einer „amputierten Seele“ wenn sie daran gehindert würde, diese auszuleben.
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Pädagoge Siegbert Warwitz erkennt im Extremsport ein werterfüllendes Handeln, wenn es von Sinnstreben getragen wird. Im Wagnis sieht er einen Weg der aktiven Selbstvervollkommnung, als Möglichkeit, die naturgegebenen Potenziale optimal auszureifen und einer als bedeutsam angesehenen Lebensaufgabe dienstbar zu machen. Diese pädagogische Betrachtung bedingt zudem eine strikte Trennung zwischen Nervenkitzel und Wagnis, Sensationsgier und Sinnsuche, Thrill und Skill, – Einstellungen eben, die den Wagemutigen vom Reizfanatiker trennen.
Die Motivation zu Extremleistungen
Zur Beschreibung der Motivation zu Extremleistungen aus sportpsychologischer Sicht boten sich schon früh zwei Erklärungsansätze an: Zum einen liegt ein Anreiz vermehrt in der Herausforderung, die eigenen Leistungsgrenzen auszutesten. Zum anderen suchen viele Sportler das emotionale Erlebnis. Die Sportpsychologie spricht vom Sensation Seeker. Dabei geht es nicht nur um den Nervenkitzel, sondern insbesondere um das erfolgreiche Überwinden von eigenen Zweifeln und Ängsten. Evelyne Binsack sagt: „Ich bin auch nur ein Mensch, habe Ängste, innere Kämpfe – mit dieser Zerrissenheit muss ich als Extremsportlerin leben.“ Bekannt ist aber auch, dass intensivste Sinnesreize und aussergewöhnliche Emotionszustände den Sportler in einen rauschähnlichen Zustand versetzen können. Die Extremsport wirkt dann wie eine Droge, die dazu führt, dass der Sportler körperliche Beschwerden nicht mehr spürt oder sie bagetellisiert.
Das Interesse am Extremsport ist in den letzten Jahren massiv gestiegen. Sportangebote werden nachgefragt, die Risiko- und Spannungserleben versprechen. Zusätzlich befeuert wird die Lust an der Grenzerfahrung durch eine stetig steigende Professionalisierung der Extremsportarten. Finanzstarke Sponsoren (z.B. Red Bull) und das vermehrte Interesse der Massenmedien sorgen dafür, dass die „Marke X-treme“ im öffentlichen Bewusstsein verankert wird. Entstanden ist eine neue Sportbühne, die mit dem Stratosphärensprung von Felix Baumgartner von 2012 medienwirksam inszeniert wurde: über 10 Millionen Zuschauer verfolgten den Österreicher live am Bildschirm bei seinem Sprung aus 39 Kilometern Höhe. Noch mehr Nähe zu Extremsportaktivitäten dürfte in den letzten zehn Jahren über die sozialen Medien und ihre Netzwerke entstanden sein. Welche Wirkung diese auf die Beachtung von Extremsportarten bei Jugendlichen haben, ist bisher noch nicht schlüssig erforscht.
Boomender Extremsport
Extremsport boomt, die Lust an der Grenzerfahrung ist ungesättigt, die Nachfrage im Internet steigt weiter. Der tragische Unfall von Ueli Steck zeigt aber auch: die „Verleiht-Fügel“-Idee erlitt jüngst vermehrt katastrophale Bruchlandungen. Deutliches Indiz dafür ist die Zunahme der Todesfälle im Base-Jumping, wie aus der bfu-Statistik der Sportunfälle 2000-2015 zu entnehmen ist. „Wenngleich jeder Extremsportler wisse, dass so etwas geschehen könne, bleibe es unfassbar,“ beschreibt Evelyne Binsack die Tragödie. Der renommierte Höhenmediziner Oswald Oelz bringt es auf den Punkt: „Irgendwann passiert es auch den Allerbesten. Irgendwann schlägt die Statistik zu.“ Diese traurige Wirklichkeit trifft insbesondere für die Schweiz zu. 2009 verunglückte mit Ueli Gegenschatz (38) einer der damals weltbesten Basejumper tödlich, als er im Rahmen eines von Red Bull gesponserten Events vom Hochhaus in Zürich sprang. 2016 wurde Freeride Weltmeisterin Estelle Balet (21) bei Dreharbeiten für einen Film von einer Lawine erfasst und verstarb noch am Unfallort.
Auch nach dem Unfall von Ueli Steck dürfte sich der Trend fortsetzen: Extrem- und Risikosportarten werden in Zukunft weiterhin einzelne junge Menschen faszinieren und anziehen. Aus Sicht der angewandten Sportpsychologie lassen sich aus diesen Überlegungen mindestens drei relevante Aspekte benennen:
Aus Sicht einer pädagogisch orientierten Sportpsychologie stellt sich die Frage: Würde ich als Sportpsychologe einen Extremsportler unterstützen wollen? Was sind meine moralisch-ethischen Begründungen, die für oder auch gegen ein Engagement in diesem Bereich sprechen?
Thema Wagnis im Sportunterricht. Siegbert Warwitz’ Analysen ergeben prinzipiell vergleichbare Grundmotive und Charakterstrukturen bei Mutproben des nach seiner Identität suchenden Kindes. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass im Rahmen der Berner Studie zur Persönlichkeitsentwicklung durch Schulsport (BISS) dem Unterrichts-Modul „Wagnis“ grosse Bedeutung zugeschrieben wird.
Betrachtet man die erwähnten Athleten-Beispiele aus Sicht des Karriereverlaufsmodells von Wylleman & Lavallee (2004), stellt sich eine grundsätzliche Frage: Könnten Extremsportler im Herbst ihrer Karriere von einer sportpsychologischen Unterstützung im Übergang in eine nachsportliche Karriere profitieren?
Literatur und Quellen:
Allmer, H. (1995). “No risk – no fun” – Zur psychologischen Erklärung von Extrem- und Risikosport. Brennpunkte der Sportwissenschaft, 9 (1/2), 60–90.
Wylleman, P. & Lavallee, D. (2004). A developmental perspective on transitions faced by athletes. In M. Weiss (Ed.), Developmental sport and exercise psychology: A lifespan perspective (pp. 507-527). Morgantown, WV: Fitness Information Technology.
Orley, Florian (2014). Die Lust am Risiko. Warum Extremsportler ihr Leben für den Sport risikieren. Hamburg: disserta Verlag.
Warwitz, S.A. (2016) Wege des Wagens in sportlichen Risikobereichen. In: Ders.: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsversuche für grenzüberschreitendes Verhalten. 2., erw. Aufl., Baltmannsweiler 2016, S. 53–96.
http://www.20min.ch/sport/weitere/story/-Es-ist–als-ob-man-einem-die-Seele-amputiert–20419948
http://extremsport-welt.de/wp-content/uploads/2013/12/Felix-Baumgartner_Kansir_flickr_CC-BY20.jpg
https://www.srf.ch/news/panorama/irgendwann-passiert-es-auch-den-allerbesten
http://www.zssw.unibe.ch/biss/
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Ich finde hier wurde ein ganz dummer und reisserischer Titel gewählt. Psychologen gelten als Spezialisten um menschliches Verhalten sensibel zu erklären. Hier fehlt die notwendige Sensibilität. Christian Brüngger hat in der letzten Sonntagszeitung einen sehr guten Beitrag verfasst. Empfehlenswert!!!
Ich verstehe den Einwand. Der Titel ist unsensibel. Er orientiert sich an der Aussage des leider verstorbenen Extremsportlers: “Scheitern heisst Sterben”. Das darf es im Sport aus Sicht der Sportpsychologie nicht sein.
Ich habe den Beitrag in den sozialen Medien (Facebook, LinkedIn) am 2. Mai 2017 mit folgendem Statement eingeleitet: “Selten zuvor habe ich mich gequält mit einem Text wie mit diesem. Da ist die Trauer um einen wunderbaren Sportler, ich spüre grosses Mitgefühl für alle, die dem Menschen Ueli Steck nahe stehen. Auf der anderen Seite fühle ich Frustration und Ratlosigkeit. Wie kann es sein, dass die Schweizer Sportszene erneut den Verlust eines Superstars im Extremsport hinnehmen muss? Wer sich an der Titelwahl stossen sollte, dem sei versichert – ja, ich hasse diesen Schriftzug. Darum habe ich ihn gewählt.”
Vielleicht mein Fehler, diesen Text hier auf die-sportpsychologen.ch nicht auch verwendet zu haben. Inwiefern der Titel eine unsensible Dummheit ist, überlasse ich dem Urteilsvermögen unserer Leserschaft.
[…] Dr. Hanspeter Gubelmann: Höher, schneller, tot […]
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