Thomas Tuchel, Erfolgstrainer von Borussia Dortmund, ist als Vordenker und Stratege bekannt. Seine Vision für die Talentförderung im Fußball beschreibt er so: „Vielleicht tragen diejenigen, die nachher etwas Besonderes werden, das Besondere schon in sich. (Es) geht darum, sie dazu zu bringen, dass sie sich selbst den Weg freikämpfen – und (wir) ihnen nicht den Weg frei räumen.“ (FAZ-Interview). Eine frische und innovative Perspektive für viele Akteure im Sport? Wahrscheinlich. Aus meiner Sicht als Psychologin stellt dies den richtigen und nächsten Schritt in der Talententwicklung dar. Denn neben den körperlichen Voraussetzungen und dem Talent eines jungen Spielers trägt dessen Persönlichkeit, Verhalten sowie das Selbstbewusstsein auf und neben dem Platz entscheidend dazu bei, wer tatsächlich Profi wird.
Zum Thema: Warum das bewusste Verlassen der Komfortzone für die Talententwicklung essentiell ist
Fußball hebt sich von anderen Sportarten in Deutschland durch seine finanziellen Mittel ab. Es stehen mehr Ressourcen für die Professionalisierung des Umfeldes zur Verfügung, was auch im Nachwuchsbereich greift. Gepflegter Rasen statt Bolzplatz und geplante Abläufe statt sich selber drum kümmern müssen, prägen mitunter das Bild des Fußballnachwuchses. Während andere Nachwuchssportler widrigeren Umständen begegnen und damit umgehen lernen, sind einige dieser wichtigen Erfahrungen für die Talente im Fußball nicht zugänglich. Damit wir uns nicht missverstehen: An vielen Stellen wäre eine Professionalisierung wie sie im Fußball möglich ist, für jede Sportart wünschenswert. An anderen Stellen ist jedoch eine andere Art der Professionalisierung notwendig. Nämlich dort, wo soziales Lernen durch bisherige Vorgehensweisen nicht mitgedacht oder schlimmstenfalls gar verhindert wird.
Ohne Reibung, kein Lernen. Ohne Lernen, keine gesunde Persönlichkeitsentwicklung
Äußere, wie innere Widerstände zu überwinden, ist eine der wichtigsten Überzeugungen, die auch Thomas Tuchel leiten. Deshalb fordert er die radikale Abschaffung der Rundumversorgung und die Rückkehr zu den Wurzeln. So fragt er: „Wer kann noch Leistungen erbringen, obwohl es keinen Fahrservice gibt?“. Als Vorbilder dienen ihm der FC Barcelona und Bayern München, wo Spieler aus einer inneren Haltung und Freude spielen und dabei den Fokus auf die Leistung und den Fußball an sich nie verlieren. Dafür ist Selbstvertrauen gepaart mit einer gefestigten Persönlichkeit mit einer gewissen Bescheidenheit notwendig.
Um eine solche „Atmosphere of Greatness“ zu schaffen ist ein langer Entwicklungs- und Veränderungsprozess notwendig, der vor allem einen gesamtheitlichen und nachhaltigen Ansatz verlangt. Dazu gehört definitiv die Einbindung der Psychologie im Sport. Ein Transfer der Erfahrungen und von erfolgreichen Konzepten aus der Personal- und Organisationsentwicklung in der Wirtschaft und im sozialen Bereich bietet meiner Erfahrung nach ein großes Potential. Zudem ist die Einbettung und Vernetzung des Umfeldes notwendig. Erste Ansätze und Konzepte gibt es hier bereits.
Durch Erfahrungen mit Grenzen, findet eine realistischere Selbsteinschätzung und ein Kompetenzgewinn statt
Warum ist Begleitung statt Reglementierung bzw. regelmäßiges stolpern, statt ein reibungsloses vorankommen für die individuelle Potentialentfaltung und Persönlichkeitsentwicklung sinnvoll? Das erklären und belegen viele wissenschaftliche Arbeiten. Im Kern des Ganzen steht aus meiner Sicht das Verständnis wie Lernen grundsätzlich funktioniert.
Eigene Abbildung des Lernzonenmodells nach Senninger
Lernen findet statt, wenn wir unsere Komfortzone verlassen und die Lernzone betreten. „Sicherheit, Geborgenheit, Ordnung, Bequemlichkeit, Entspannung, Genuss“ (Michl 2009) charakterisieren die Komfortzone und stellen somit uns vertraute, bekannte Umgebungen bzw. alltägliche Situationen dar, in den wir uns sicher bewegen und bereits viele Erfahrungen gesammelt haben.
Dahingegen liegen in der Lernzone Herausforderungen in Form von neuen Erfahrungen, Unbekanntem, Konflikten und Abenteuer. Damit einhergehend treten Gefühle von Unsicherheit, Risiko und „ich weiß nicht, was richtig ist bzw. was ich tun soll“ auf. Jedoch ist nur durch den Eintritt in die Lernzone und den damit einhergehenden Erfahrungen das Wachsen der Komfortzone möglich.
Wer sich traut, zu lernen und an sich zu wachsen, entwickelt zeitgleich mentale Stärke
Je öfter man die Lernzone betritt, desto mehr lernt man das Lernen an sich und den Umgang mit Unsicherheiten und neuen Herausforderungen. Dadurch wächst sowohl das Selbstbewusstsein als auch das individuelle Kompetenzspektrum und Verständnis von sich selbst und seiner Persönlichkeit.
Die Diplom-Psychologin Ayla Kadi arbeitet an der Technischen Universität Berlin und ist Expertin für die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen und den Übergang von Schule zu Beruf. In unserem Interview sagte Sie:
„Das Vertrauen und die Akzeptanz der eigenen Person durch ihre Bezugspersonen ist für Jugendliche entscheidend. Es muss ihnen intensiv vermittelt werden.“
Und weiter: „Ab der Pubertät tritt ein notwendiger Ablösungsprozess ein, der den Jugendlichen zum Erwachsenen heranreifen lässt. Dazu gehört das Rebellieren, Grenzen testen und Bestehendes herauszufordern und sich selbst erfahren. Das Beste, was die Erwachsenen im Umfeld tun können, ist deshalb den Jugendlichen ihr Vertrauen auszusprechen und sie bei ihrer Entwicklung zu begleiten. Dazu gehört sowohl selbst ein Vorbild zu sein, als auch der Entwicklung angemessene Grenzen zu setzen und dem Jugendlichen stets ein klares und eindeutiges Feedback zu geben, wie sein Verhalten wirkt und welche Konsequenzen es hat. All das ist wissenschaftlich belegt. Die größte Herausforderung besteht meiner Erfahrung nach darin „locker zu lassen“ und Jugendlichen ihre eigenen Erfahrungen zu ermöglichen, ohne sie zu überfordern. Durch gezielte Lernerfahrungen und -erfolge entsteht Motivation, Mut und Lust am (weiter) Lernen. Zudem vermittele ich in meiner Arbeit vor allem Eltern, Ausbildern, Trainern, etc. Wissen und ein Verständnis, welchen Herausforderungen Jugendliche gegenüberstehen – sowohl körperlich, als auch emotional und mental. Dabei ist es entscheidend, dass die Erwachsenen ihre eigenen Grenzen kennen und achten. Zudem gebe ich ihnen individuelle Tipps und praxisnahe Werkzeuge an die Hand, da alle Beteiligten einen entscheidenden Einfluss auf eine talentfördernde und gesunde Umgebung haben.“
Maßvolle Über- und Unterforderung
Das richtigen Maß zwischen über- und Unterforderung im Umgang mit dem Sportnachwuchs zu finden, ist enorm wichtig und gehört auch zum Verantwortungsbereich des Vereins. Wird ein Jugendlicher mit einer Lernsituation oder Erwartung überfordert, gerät er in die Panikzone, ist verunsichert und blockiert. Das innere System schaltet auf „Notfall, Verletzung, objektive Gefahr, Unfall“ (Michl) um und strebt die Wiederherstellung der Komfortzone an. Lernzonnenmodell-Geber Senniger dazu: „In diesem Bereich können wir nicht lernen, sondern bleiben immer nur frustriert. Alles, was darin liegt, ist unserer Persönlichkeit zu fern und zu fremd und nicht zu bewältigen.“
Im Sport, insbesondere der Talentförderung, findet Lernen im Sinne des körperlichen Lernens, des Spielverständnisses und des Zusammenspiels als Mannschaft bereits statt. Jedoch mangelt es, wie von Tuchel gefordert, an bewusst geschaffenen Widerständen (Lernsituationen), an denen die einzelnen Spieler wachsen können. Diese Ebene muss mitgedacht werden. Um diesen Weg zu gehen, müssen die Verantwortlichen des Fußballnachwuchses zunächst selber Mut zeigen und ihre eigene Komfortzone verlassen, um sich diesem Thema zu stellen. Ich versichere Ihnen: Es lohnt sich!
Der Coach als Kutscher
Eine kleine Randbemerkung zum Schluss: Wussten Sie, dass die Übersetzung von Coach Kutscher, d.h. Wegbegleiter, ist? Sind wir Sportpsychologen in der Rolle als Coach aktiv, tun wir genau das, was Thomas Tuchel gefordert hat: Wir begleiten professionell die individuelle Entwicklung, die Lernfortschritte und die Lösungsfindung unseres Gegenübers. Brauchen Sie eine Wegbegleitung, um aus der Komfortzone herauszukommen, vertrauen Sie also gerne uns.
Herzlichst,
Wencke Schwarz (zum Profil)
Quellen:
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) – Artikel „Tuchels Visionen – Eine Zukunft ohne perfekten Rasen“ von Michael Horeni, 7.10.2015
Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) – Artikel „96-Jugendspieler wollten Spielhalle überfallen vom 8.2.2016
Michl, Werner: Erlebnispädagogik (2009), broschiert, UTB Verlag
Senninger, Tom: Abenteuer leiten, in Abenteuern lernen (2000), Münster.
Stroebe, Wolfgang (Hrsg.): Sozialpsychologie (2014), Springer Verlag
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[…] [Folie 4 Komfortzone, vgl. z. B. hier] […]