Was Wimbledon für den Tennissport, Monte Carlo für die Formel 1 und der Ironman Hawaii für den Triathlon ist, das ist die Streif in Kitzbühl für den Sportart Ski Alpin, und jedes Jahr werden die Zuschauer Zeuge, wie Legenden geboren und Tragödien geschrieben werden. Betrachtet man eine der bekanntesten Abfahrten genauer, mit einem Höchstgefälle von 85 Prozent und einer Länge von 3,3 Kilometer, wird deutlich, welche physisch und psychisch anspruchsvolle Strecke die Sportler bewältigen müssen. Sowohl in der Abfahrt, als auch beim Super-G, werden Geschwindigkeiten von über 140 km/h erreicht, was bei Stürzen zu schwerwiegenden Verletzungen führen kann. Dem Österreicher Matthias Lanzinger musste beispielsweise nach einem Sturz im März 2008 im Super-G der Unterschenkel amputiert werden.
Für die-sportpsychologen.de berichtet: Thorsten Loch
“Es braucht Kraft und Konzentration, um etwas zu Gewinnen, wovor man eigentlich Angst hat“.
Erik Guay, kanadischer Skirennfahrer
Die Sportart Ski Alpin mit den vier Disziplinen Abfahrt, Super-G, Riesenslalom und Slalom ist eine etablierte und in den Medien stark präsente Wintersportart. Allen voran die Weltcup-Abfahrt Hahnenkamm in Kitzbühl, stellt in der öffentlichen Wahrnehmung den Prototypen eines riskanten und mental anspruchsvollen Sports dar (Engbert/Seitz, 2012). Deshalb verwundert es auch nicht, dass zum 75. Jubiläum des Weltcups im Jahr 2014 eigens ein Kinofilm anlief, welcher die Faszination „Streif“ sehr eindrucksvoll verdeutlicht. Doch wie lässt sich ein solcher Konflikt/Antrieb beschreiben/erklären, sich den Hang auf zwei Brettern herunterzustürzen?
„Ich gratuliere allen, die hier heruntergefahren sind. Ich glaube, wir spinnen!“
5fach-Sieger Didier Cuche (SUI) über das Streif-Feeling
Um dieser Frage näher zu kommen, lohnt sich der Blick auf die Arbeiten von Kurt Lewin, welche einen bedeutenden Einfluss auf die Motivationspsychologie hatten. Bisher waren hauptsächlich physikalische Situationsbeschreibungen Grundlage für die motivationspsychologische Forschung gewesen. Mit Lewin änderte sich die Sichtweise hin zu der Suche nach den individuellen, aus der Lebensgeschichte einer Person entstandenen Beweggründen (Rheinberg, 2004). Die Formel, mit welcher Lewin menschliches Verhalten erklärt, integriert situative Einflüsse und erweitere somit den Blick für die zukünftigen Ansätze in der motivationspsychologischen Forschung. Das Verhalten ist demnach eine Funktion der Person und der Umwelt. Dessen Lebensraum sich durch verschiedene Zielfelder gestaltet, die der Mensch aufsucht oder zu vermeiden versucht. Bedürfnisse versteht Lewin in diesem Zusammenhang als gespannte Systeme. Durch den Spannungszustand entsteht der Aufforderungscharakter eines Zustandes oder Objektes und veranlasst zu Handeln. Daraus ergibt sich, dass jeder Mensch gemäß seiner Lebensgeschichte, seinen Erfahrungen und seinen Erinnerungen anderen Bereichen Bedeutung beimisst und sich so eigene Zielfelder aufbaut und nach ihnen seine Handlung ausrichtet. Zudem entwickelte Lewin im Laufe seiner Forschung eine Konflikttypologie, mit der Antrieb für bestimmte Handlungen erklärt werden. Hierbei unterscheidet er den Appetenzkonflikt, den Aversionskonflikt und den Appetenz-Aversions-Konflikt.
Der Appetenz-Aversions-Konflikt
Im Falle des Appetenz-Aversions-Konfliktes befindet sich eine Person einem Objekt gegenüber, das sowohl positive als auch negative Eigenschaften in sich vereint.
In dem hier vorliegenden Fall wäre es die Abfahrt Streif mit all seinen Gefahren (Stürze, Verletzungen, Schwierigkeit, usw.) bei gleichzeitiger Faszination (Geschwindigkeit, medienwirksamer Auftritt, Prestige, Kindheitstraum usw.). Einerseits freut sich der Athlet auf den Wettkampf vor solch einer Kulisse, auf der anderen Seite hat dieser unter Umständen Angst und den möglichen Folgen eines Sturzes. Somit befindet sich der Sportler in einem klassischen Appetenz-Aversions-Konflikt. Dieser Konflikt war bereits vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen (u.a. Miller, 1944), dessen Ergebnisse folgendermaßen zusammengefasst werden können:
- Mit zeitlicher oder räumlicher Entfernung sieht eine Person eher die positiven Aspekte der ambivalenten Situation.
- Die Meidungstendenz setzt erst mit einiger Nähe zum ambivalenten Objekt sein, dafür wird sie aber bei zunehmenden Nähe stärker.
- An einem bestimmten Punkt der Entfernung zum ambivalenten Objekt sind Meidungstendenzen und Aufsuchungstendenz gleich stark. Es kommt zu einem Pendeln. Nähert sich die Person dem Objekt weiter, überwiegt die Meidungstendenz. Entfernt sie sich, bekommt die Aufsuchungstendenz mehr Gewicht.
Das EPSTEIN-Modell
Nach Epstein (1962) sind für die Entstehung von Appetenz-Aversions-Konflikte vor allem innere Kräfte verantwortlich. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von so genannten „triebreduzierende Verdrängungen“. Bei Triebreduzierende Verdrängung handelt es sich also um Verdrängung von Antworten, die, würden sie nicht verdrängt werden, den Trieb verstärken. Deshalb kann man auch annehmen, dass das Leugnen von Furcht unmittelbar vor einem kritischen Ereignis einen inneren Schutzmechanismus darstellt, um diese Angst nicht durch Äußerungen, wie z.B. das Zugeben, dass man Angst hat, noch weiter zu verstärken. Epstein testete unerfahrene Fallschirmspringer unmittelbar vor dem Sprung mit einem speziell konstruierten Wort-Assoziationstest. Was bei der Untersuchung gemessen wird, sind nicht die Anziehungen und Vermeidungen an sich, sondern nach außen oder innen gerichtete Tendenzen, die mit dem Appetenz- bzw. Aversions-Verhalten im realen Leben übereinstimmen oder eben nicht übereinstimmen, sondern verdrängt werden. Epstein (nach Hitzlhofer, 1979) erklärt dies damit, dass sich Sportler ein Quasi-Schutzsystem aufbauen und Dinge, die eine schon vorhandene Angst noch verstärken würden, gar nicht ausspricht, sondern verdrängt. Gibt der Sportler bei den psychologischen Tests vor einem Sprung gleichmäßig Antworten, die das Springen selbst nicht betreffen, so zeigen die physiologischen Meßwerte sehr deutlich den „wahren“ Grad der Aufregung bzw. der Angst, die der Springer vor dem Absprung empfindet. Die umgekehrte U-förmige Kurve, die den Verlauf der Herzfrequenz verdeutlicht, scheint das Resultat eines physiologischen Hemmungsprozesses zu sein. Dieser Hemmungsprozess wird von der steigenden physiologischen Erregung oder durch äußere Reize ausgelöst, die mit dem herannahenden Sprung verknüpft sind, bzw. durch beide Möglichkeiten. Subjektiv empfundenen Angst und Angsthemmung gehen der physiologischen Aktivierung und Hemmung voraus. Epstein (1977) vermutet in diesem Zusammenhang ein in der Tiefe liegendes, hierarchisch geordnetes Abwehrsystem. Durch den Anstieg des Angstgradienten und durch die Entwicklung einen Hemmungsgradienten wird ein Großteil der Angst bewältigt, und Warnreize bei niedrigem Aktivierungsniveau können erfasst werden.
Untersuchung bei dem alpinen Klettern
Heitzelhofer (1979) führte ausgehend von den bis hierher dargestellten Untersuchungen und Ergebnissen den Verlauf des Konfliktes beim alpinen Klettern weiter, mit dem Ergebnis, dass vor dem kritischen Ereignis ein Anstieg der Nettoanziehung nur dort zu verzeichnen ist, wo es sich um gute Sportler handelt. Heitzelhofer stellt die Hypothese auf, dass der gute Sportler die erhöhte Aktivierung vor dem kritischen Ereignis in Leistung umzusetzen vermögen, während die Furcht die andere Gruppe von Sportlern eher daran hindert, gute Leistungen zu erzielen. Wird eine Bewegung aus irgendeinem Grund mit Angst ausgeführt, so wird das Bewegungsverhalten durch den Einfluss der Angst mit determiniert: es wird entweder gehemmt oder aktiviert. Angst kann demzufolge als Antrieb gesehen werden, deren Kraft seiner energetisierenden Wirkung einen leistungs- und lernaktivierenden Einfluss hat, der aber andererseits bei zu starker Intensität desorganisierter und wirkt und einen leistungs- und lernhemmenden Einfluss hat (vgl. Boisen, 1975).
Auf der Grundlage der Ergebnisse der subjektiven Einschätzungen der Sportler bei Risikosportarten ist es durchaus denkbar, dieses Modell auch auf den Leistungssport zu übertragen. Insbesondere in Wettkampfsituationen, wie beispielsweise das Weltcup-Rennen Streif, ist ein adäquater Umgang mit Emotionen angebracht.
Sportpsychologie im Ski Alpin
Basierend auf den Erfahrungen wurde im Deutschen Skiverband (DSV) die sportpsychologische Arbeit im Ski Alpin seit 2006 in einem kontinuierlichen Betreuungskonzept über alle Altersklassen hinweg etabliert (Engbert/Seitz, 2012). Dass es sich bei Ski Alpin um eine komplexe sportpsychologische Betreuungsarbeit handelt, erkennt man auf den ersten Blick. Die unterschiedlichsten Witterungsbedingungen oder längeren Anreisen zu Trainingsplätzen seien an dieser Stelle stellvertretend genannt, welche sich den Athleten gegenüber stellen. Was ist in den Disziplinen Abfahrt und Super-G aus sportpsychologischer Sicht zu beachten? Da es sich bei Abfahrt und Super-G um Speed-Disziplinen handelt, sind die Themen Angst, Selbstvertrauen, Kompetenzüberzeugung und Erwartungsdruck grundsätzlich in der sportpsychologischen Betreuung zu berücksichtigen. In der Abfahrt wie auch im Super-G müssen die Sportler die Informationen aus der Besichtigung in einen lebhaften und adäquaten Handlungsplan umsetzen, dem sie vertrauen und von dem sie überzeugt sind, diesen auch umsetzen zu können (Hermann/Mayer, 2009). Besonders die Fertigkeiten der Visualisierung und des Vorstellungstrainings stehen im Mittelpunkt der sportpsychologischen Betreuungsarbeit. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Sportler nicht nur die Strecken kennen, sondern sich auch zutrauen ihren Handlungsplan umzusetzen. Die Zuversicht in die eigene Kompetenz ist vor allem im Nachwuchsbereich sportpsychologisch aufzubauen. Dazu eignen unterschiedliche Verfahren wie beispielsweise das Prognosetraining (Eberspächer, 2012) oder die ressourcenorientierte Sammlung von positiven Eigenschaften (Engbert, 2011).
Fazit: Für eine erfolgsversprechende sportpsychologische Betreuungsarbeit im Ski Alpin sollten die Besonderheiten der Sportart und der jeweiligen Disziplinen beachtet werden. Denn es ist davon auszugehen, dass die spektakulärste Skiabfahrt der Welt weiterhin Millionen Zuschauer in ihren Bann ziehen und neue Legenden hervorbringen wird.
Literatur:
Boisen, M. (1975). Angst im Sport. Achenbach: Lollar.
Eberspächer, H. (2012). Mentales Training: Das Handbuch für Sportler und Trainer. München: Copress Verlag.
Engbert, K. (2011). Mentales Training im Leistungssport. Stuttgart: Neuer Sportverlag.
Engbert, K. und Seitz, V. (2012). Sportpsychologie im Ski Apline. In: Beckmann, J. (Hrsg.). Handbuch sportpsychologischer Praxis. Mentales Training in den olympischen Sportarten. Balinger: Spitta Verlag.
Epstein, S.: The Measurement of Drive and Conflict in Humans: Theory and Experiments. In: Jones, M. D. (ed.). Nebraska Symposium on Motivation. Lincoln 1962, S. 127-206
Epstein, S.: Versuch einer Theorie der Angst. In: Birbaumer, N. (Hrsg). Psychophysiologie der Angst. München: Urban 1977, S. 208-266
Hitzlhofer, K. (1979). Zur Bewältigung der Angst in Risikosportarten. In: Gabler, H. (Hrsg). Praxis der Sportpsychologie. Berlin: Bartels und Wernitz.
Mayer, J. und Hermann, H.-D. (2009). Mentales Training. Heidelberg: Springer Medizin Verlag.
Miller, N. E.: Liberalization of basic S-R-concepts: Extensions to confict behavior, motivation and social learning. In: Koch, S. (ed.). Psychology, a Study of Science. Vol. 2 New York 1959
Rheinberg, F. (2004). Motivation, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
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