Einmal Gold hat der US-Amerikaner Matt Emmons in Athen 2004 bereits geschossen. Im Kleinkaliber-Liegendkampf ist der seinerzeit 23 Jahre alte Junioren-Weltrekordler seiner Favoritenrolle gerecht geworden. Jetzt führt er auch im Finale des Dreistellungskampfes – nach neun der zehn Finalschüsse – mit 3,0 Ringen Vorsprung. Wer soll ihm jetzt noch den Sieg streitig machen? Emmons legt an, zielt und trifft. Aber die Trefferanzeige gibt eine Null an. „Ich habe geschossen“, gibt der sichtlich ratlose Emmons zu Protokoll. Alle glauben an einen Patronenfehler und eine Wiederholung des Schusses, ehe die Jury den unglaublichen Fehler aufklärt.
Zum Thema: Aktivationsregulation, Stress und Stressbewältigung
Emmons schoß auf die Bahn des Österreichers Christian Planer und somit wird dieser Schuss mit einer Null bewertet. So etwas hat es wohl noch nie im Schießsport gegeben, erst recht nicht im letzten Schuss eines Olympia-Finals. Mit den Folgen das Emmons, dem eine lächerliche 7,2 zu Gold gereicht hätte, nur der Achte und letzte Platz bleibt.
Emmons geht auch 2008 in Peking an den Start und wird wieder zum tragischen Helden. Im Dreistellungskampf führt er vor dem letzten Schuss mit 3,3 Punkten Vorsprung. Und abermals gibt er das Gold aus der Hand. Lediglich eine 4,4 schießt Emmons im letzten Versuch und rutscht auf Rang vier ab. Zuvor hatte kein Schütze im Finale eine schlechtere Wertung als 7,7 erzielt.
Was ist geschehen? Wie kann es dazu kommen, dass Sportlern in entscheidenden Wettkämpfen eher Fehler passieren als im Training? In den bisherigen Ansätzen zum Stressgeschehen bzw. Stressbewältigung im Sport zeigen sich deutliche Parallelen zu der allgemeinpsychologischen Zugangsweise. Der kognitionspsychologische Ansatz von Lazarus (1966) und Lazarus und Launier (1981) sieht den Prozess der Stressbewältigung als Äquilibrationsprozess eines in Ungleichgewicht geratenen psycho-physischen Zustandes. Durch Beanspruchung kommt es zu einer Änderung des individuellen (Normal-)Zustandes, und dies kann zu einem psychophysischen Ungleichgewicht (Stressreaktion) führen. Begünstigt wird dieser Prozess der Entstehung nach Eberspächer (2007) zusätzlich durch die folgenden Punkte:
- Wettkampfsituationen sind nicht wiederholbar, sie sind einmalig.
- Wettkampfsituationen gehen immer (bewusst oder unbewusst) mit einer Prognose einher, einer Vorhersage, über das erwartete Ergebnis, was vor allem daran zu erkennen ist, dass Athleten nach dem Wettkampf erfreut, enttäuscht, frustriert o.ä. sind.
- Aus Wettkampfsituationen folgen immer Konsequenzen, sei es in materieller, psychologischer oder ideeller Hinsicht.
Im Gegensatz zu Personen des alltäglichen Lebens, stellt sich die Frage des effektiven Copings im leistungssportlichen Kontext jedoch ganz anders dar. Hier bemisst sich das erfolgreiche Bewältigen einer kritischen Situation im Handlungserfolg (Stoll/Ziemainz, 2002).
Aktivationsregulation, Stress und Stressbewältigung
Der Sportler versucht nun, die an ihn gestellten Anforderungen mit Hilfe interner Regulationsprozesse zu bewältigen. Die Bewältigung kann zum einen dazu führen, dass eine Wiederherstellung des leistungsförderlichen Zustandes und die Lösung der Anforderung erfolgt. Eine Passivität gegenüber den Prozessen zur Optimierung der psycho-physiologischen Funktionslage kann die Ursache für einen „suboptimalen psycho-physiologischen Zustand“ (Eberspächer/Hermann/Kallus, 1993, S. 237) vor und während der nächsten Belastung sein, mit der Folge einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit für die nachfolgende Belastung. Unter Zuhilfenahme von adäquaten Bewältigungsstrategien kann dieses Ungleichgewicht beseitigt werden. Bei Bewältigung handelt es sich somit um einen Vorgang, in welchem die Belastung reduziert wird. Das muss sich nicht immer in sichtbarem Verhalten äußern. Auch über Vorstellungen, Umbewertungen und Neuinterpretationen kann Belastung gemindert werden, obwohl sich objektiv die Situation nicht verändert hat (Stoll/Ziemainz, 2002). Nach Schlicht (1989) können die Bewältigungsbemühungen auf folgende Belastungsepisoden gerichtet sein:
1.) auf den belastenden Reiz, auf die Wahrnehmung der Reizbeschaffenheit oder
2.) auf den Bewertungsvorgang.
Schlicht leitet in diesem Zusammenhang Handlungsregeln für situationsangemessenes Verhalten ab. Eine (allgemeine) Regel lautet, “dass man aktiv einflussnehmend in solchen Situationen bewältigen sollte, die überhaupt kontrollierbar und durch eigenes Handeln regulierbar sind. Passives Bewältigen (z.B. Abwarten, Zögern usw.) ist Situationen angemessen, die von sich aus an belastender Wirkung einbüßen (Wandlungswahrscheinlichkeit), ungewiss und mehrdeutig sind und die eigenen Bewältigungsressourcen überfordern” (Schlicht 1989).
Schleusentechnik nach Eberspächer
Als bildliches Modell für den Zusammenhang zwischen Anspannung, Spannungsregulation und Spannungsausgleich kann die Schleuse (Eberspächer, 2009) hilfreiche Dienste leisten. Eberspächer versteht hierunter eine Phase zwischen zwei Belastungen, die entsprechend der zur Verfügung stehenden Zeit für Regenerations- und Erholungsvorgänge der hervorgerufenen Beanspruchung und der gezielten Spannungsregulation genutzt werden kann. Zentrale Bedeutung erlangt diese Phase als psycho-physiologischer Ausgangszustand für eine erneute Belastung, auf die „die Folgeeffekte der vorausgegangenen induzierten Beanspruchung und die zur Verfügung stehenden Ressourcen wirken“ (Kallus/Erdmann, 1994, S. 48). Die Schleuse kann also dazu genutzt werden, um das leistungsfördernde Niveau wiederherzustellen. Abhängig von den zur Verfügung stehenden Zeitraums besitzt die Schleuse eine andere Funktion für die Optimierung der sportlichen Leistungsfähigkeit:
- Spannungsregulation: die Dosierung der Spannung auf dem Anspannungs-Entspannungs-Kontinuum (Eberspächer, 2009)
- Spannungsausgleich: einen bewusst gestalteten Wechseln von Anspannung und Entspannung
Beide Funktionen bedingen sich, sind dennoch voneinander abzugrenzen. Insbesondere bei kürzeren Pausen, wie bspw. im Dreistellungskampf, reicht der Zeitraum für autonom ablaufende Wiederherstellungsprozesse eines organismischen Gleichgewichtszustandes aufgrund des erhöhten Aktivationsniveaus nicht aus. Folglich kommt der psychischen Steuerung im Sinne einer Spannungsregulation eine wichtige Funktion für die Schaffung eines optimalen Vorstartzustandes der nachfolgenden Belastungen zu. Die Regulation ist unmittelbarer Teil der Wettkampfsituation, welche die systematische Dosierung des Aktivationsniveaus für die optimale Leistungsfähigkeit sowohl vor der anstehenden Belastung als auch zwischen zwei Belastungen vorsieht. Die Vorbereitung einer Belastung wird daher um die Nachbereitungsfunktion für die nächste Belastung ergänzt. Je kürzer die Pause, umso wichtiger erscheint die aktive Beeinflussung, für die nach Eberspächer (1990) sechs kognitiven Fertigkeiten zur Verfügung stehen. Dazu gehört auch die Aktivationsregulation, die erlernt, trainiert und optimiert werden kann.
Fazit
Sportler stehen im Allgemeinen häufiger in beanspruchenden Situation als Normalbürger. Auf der Basis des transaktionalen Modells wird Stress als ein sich entwickelnder Zustand verstanden, der in negativen Belastungswirkungen endet (z.B. Konzentrationsverlust, Ärger, Wut) bzw. aus dem sich eine Minderung der individuellen Handlungsfähigkeit ergibt, wenn dieser nicht adäquat bewältigt wird (vgl. Schlicht, 1989). Mittels kognitivem Fertigkeitstraining wie bspw. Selbstgesprächsregulation, können Sportler sich selbst regulieren, um auf eine leistungsfördernde Wettkampfspannung zu gelangen.
Literatur:
Eberspächer, Hans (2007). Mentales Training – Das Handbuch für Trainer und Sportler. 7. Auflage. Copress Verlag: München
Eberspächer, Hans (2009). Ressource Ich – Stressmanagement in Beruf und Alltag. 3. Auflage . Carl Hanser Verlag: München.
Eberspächer, H., Hermann, H.-D. & Kallus, K.W. (1993). Psychische Regeneration und Erholung zwischen Beanspruchungen. In J.R. Nitsch & R. Seiler (Hrsg.), Bewegung und Sport:
Psychologische Grundlagen und Wirkungen (Bd. 1, S. 237-241). Academia: Sankt Augustin.
Kallus, K. W. & Erdmann, G. (1994). Zur Wechselbeziehung zwischen Ausgangszustand, Belastung und Erholung. In R. Wieland-Eckelmann, H. Allmer, J. Otto & K. W. Kallus (Hrsg.), Arbeit und Erholung. Studien zur Aktivierung, Belastung und zum Arbeits-Erholungszyklus (S. 46-67). PVU: Weinheim.
Lazarus, R.S. (1966). Psychological stress and the coping process. New York: McCraw-Hill.
Lazarus, R.S. & Launier, R. (1981). Streßbezogene Transaktionen zwischen Personen und Umwelt. In J.R. Nitsch (Hrsg.), Stress, Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen (S.213-260). Huber Verlag: Bern, Stuttgart, Wien.
Schlicht, W. (1989). Belastung, Beanspruchung und Bewältigung. Erster Teil: Theoretische Grundlagen. Sportpsychologie, 3(2),10-17.
Stoll, O./Ziemainz, H. Stress und Stressbewältigung im Sport – Theoretische Überlegungen zur Anwendung allgemeinpsychologischer Stresstheorien auf sportpsychologische Fragestellungen im Leistungssport. Übersichtsartikel.
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[…] 1996) bzw. der speziellen Erholungsform (Wettkampf-)Pause (Eberspächer, 2004; siehe dazu auch http://www.die-sportpsychologen.de/2015/09/14/thorsten-loch-knapp-daneben-ist-auch-vorbei/) […]
[…] Besondere Situationen – wie beispielsweise Konkurrenzsituationen im sportlichen Wettkampf (Eberspächer, 2009) – ziehen als Konsequenz auf einer mentalen Beanspruchungsreaktion nach sich, dass das Individuum über adäquate psycho-physische Regulations- und Steuerungsmechanismen verfügen sollte. In diesem Zusammenhang liefert die Sportpsychologie dem Athleten unterschiedliche Möglichkeiten (siehe dazu auch http://www.die-sportpsychologen.de/2015/09/14/thorsten-loch-knapp-daneben-ist-auch-vorbei/). […]